In der Regel jagten Gilgamesch und Enkidu gemeinsam. Doch einmal zog Gilgamesch allein aus, und dies stellte sich als ein schwerer Fehler heraus.
Der Leitwagen hatte an dem Tag eines seiner Räder verloren. Er krängte stark über, lag fast auf der Seite, und die radlose Achse hatte eine tiefe Furche in den roten staubigen Boden gegraben. Van der Heyden trommelte sich grimmig in die Flanken, dann wandte er sich den kräftigen sumerischen Helden zu und rief: »He! Ihr zwei, kommt doch mal und helft uns!«
»Wir gehen auf die Jagd«, sagte Gilgamesch. »Die Hänge da oben wimmeln von Wild.«
»Also, dann soll einer von euch auf Jagd gehen, und der andere soll uns hier helfen. Wir müssen den verdammten Wagen da wieder aufstellen, kapiert ihr?«
Gilgamesch zögerte. Ärger wallte in ihm hoch. Lastwagen aus dem Graben zu hieven, das war keine Arbeit für einen ehemaligen König; außerdem wartete auf ihn eine gute Jagd. Und er hätte van der Heyden hitzig abfahren lassen, doch Enkidu, der fühlte, was da gleich geschehen würde, legte ihm rasch die Hand auf den Arm und sagte zu dem Kerclass="underline" »Ich will euch bei eurem Wagen helfen. Und mein Bruder Gilgamesch wird sich auf die Spur des Wildes machen.«
»Enkidu…«
»Es ist schon recht, Bruder. Ich bringe ihren Wagen in Ordnung, und wenn ich damit fertig bin und es ist genug Licht, folge ich deiner Spur und komme dir nach in die Berge. Und nun geh schon, solange du noch Beute findest.«
»Aber…«
»Geh nur«, wiederholte Enkidu.
Immer noch zornig sah Gilgamesch zu, wie Enkidu zu der Gruppe trat, die sich um den Wagen abmühte. Enkidu stemmte die Schulter gegen die Seite des Karren und winkte Gilgamesch zu, er solle endlich losziehen; und nachdem er noch einen Augenblick finster zugesehen hatte, nickte der sumerische Held und stapfte davon. Es war eigentlich schon recht spät am Tag für die Jagd. Rasch erklomm er den Hang, indem er sich an den verkrüppelten Stämmen der fast blattlosen Büsche festhielt, die dort wurzelten. Ein weißfelliges Geschöpf, nicht viel größer als eine Ziege kam plötzlich aus der Deckung gestürmt, besah ihn bestürzt und floh in wilden Sprüngen hangaufwärts. Gilgamesch machte sich sofort an die Verfolgung, und er verlor beim Aufstieg keinen Augenblick die flimmernde Weißheit des Tieres aus dem Blick. Das Fleisch würde wahrscheinlich gut schmecken; die Decke würde zweifellos einen wundervollen Umhang ergeben. Und so stieg er weiter und höher und weiter, und dann durch einen Spalt in der Felswand des Canyons und weiter, ohne zu ermüden weiter, hinter dem leuchtenden Weiß her.
Am Ende hatte er seine Beute verloren. Das verdroß ihn sehr. Aber er stöberte doch tiefer in den Nebencanyon, in den er geraten war, weil er dachte, er würde vielleicht ein ähnliches Tier aufspüren. Aber auch dies erwies sich als ergebnislos, und so mußte er sich mit kleinerem, weniger erfreulichem Wild begnügen. Als die Schatten wuchsen, kehrte Gilgamesch auf seinem Weg zurück, stieg von dem kleinen Seitental zurück in die große Schlucht und begann den Abstieg zu dem Ort, an dem die Karawane gehalten hatte.
Er konnte den Zug wegen eines Vorsprungs in der Felswand zunächst nicht sehen. Erst als er bis auf halbe Höhe hinabgestiegen war und bevor er die ersten Wagen sah, erblickte er eine schwarze Rauchwolke, die irgendwie nicht wie der Rauch von einem Lagerfeuer aussah. Er rannte hastig an den Rand des Vorsprungs und blickte hinab.
»Götter!« schrie er.
Drunten im Tal lagen die Wagen umgekippt und verstreut umher, als hätte die Hand des Beherrschers der Dämonen sie durcheinandergeworfen. Einige Wagen brannten. Alle waren aufgeschlitzt und ausgeraubt worden. Und darum herum verstreut lagen die Kaufleute in ihrem eigenen Blut. Gilgamesch sah van der Heyden, der auf dem Rücken lag und mit glasigen Augen nach oben starrte. In seiner Brust war eine tiefe Wunde. Andere lagen bäuchlings tot da, oder es war ihnen gelungen, unter einen der Wagen zu kriechen. Niemand bewegte sich mehr.
»Enkidu?« schrie Gilgamesch.
Er ließ die Jagdbeute fallen und raste in wilden Sprüngen, halb schlitternd zum Talgrund hinab. Aus der Nähe sah die Szene des Gemetzels noch furchtbarer und wüster aus, als er befürchtet hatte. Sie waren alle tot, die Männer, die Weiber, die Kinder, sogar die Zugtiere — alle außer einem großen scheckigen Hund namens Ajax, der wild bellend umherrannte. Und alle waren mit einer Raserei und Wut getötet worden, die sogar dem schlachtengehärteten Gilgamesch Ekel erregten: ein gräßliches Hinschlachten, ein abscheuliches Gemetzel. Die Wagen waren wüst geplündert und zerstört worden.
Und Enkidu? Wo war Enkidu?
Das Gefühl, daß er fort sei, dröhnte in Gilgameschs Kopf wie eine schauerliche Glocke.
Verzweifelt suchte er hinter diesem Wagen und unter diesem, und mit seiner gesammelten gewaltigen Stärke brüllte er den Namen seines Freundes: Aber von Enkidu war nirgendwo etwas zu sehen, nicht von ihm und auch nichts von seinen Waffen. Das war verwirrend. Hatten die Angreifer ihn mit sich fortgeschleppt? So sah es aus — es sei denn, daß Enkidu während des Überfalls gar nicht da war, daß er sich in die Berge aufgemacht hatte, um Gilgamesch zu suchen, und daß sie sich irgendwie verpaßt hatten…
Nein, in diesem engen Tal war es ausgeschlossen, daß Enkidu Gilgameschs Fährte nicht gefunden und ihr hätte folgen können! Und Gilgameschs widerhallende Rufe — Enkidu hätte sie doch gewiß hören müssen, wie weit er auch gewandert wäre…
»Enkidu! Enkidu!«
Gilgamesch rief weiter den Namen seines Freundes, bis ihm die Stimme versagte. Doch es half nichts. Die Nacht kam näher. Sicher würde Enkidu aus den Bergen herabkommen, sobald es dunkel wurde. Sofern er überhaupt dort oben war. Ist er denn schon wieder fort von mir? Tot? In die Sklaverei verschleppt?
Verwirrt und tief beunruhigt schleifte Gilgamesch die noch rauchenden Wagentrümmer zusammen und baute aus ihnen einen Scheiterhaufen, und er legte die verstümmelten Leiber der Toten darauf und trat beiseite und sprach die rituellen Worte, während die Flammen aufloderten. Dann wandte er sich ab und schritt davon und zog rasch in den wachsenden Schatten nach Westen. Er wollte die Nacht nicht an diesem Ort des Todes zubringen. Seine Seele war leer. Es war ihnen so wenig Zeit gegeben, bei dieser jüngsten Wiedervereinigung, ehe ihm Enkidu wieder entrissen wurde. Ihr Götter, dachte Gilgamesch, soll es uns denn nie erlaubt sein, beisammen zu bleiben?
Der Hund Ajax trottete hinter ihm drein. Gilgamesch scheuchte ihn fort, doch der Hund bellte und kläffte so verzweifelt, als versuchte er, ihm etwas in Worten zu sagen, und ließ sich nicht abschütteln. Gilgamesch hatte kein Verlangen nach einem Hund; aber er begriff, daß er es kaum über sich bringen konnte, das Tier hier zum Sterben zurückzulassen. Und außerdem sah es so aus, als wäre es unmöglich, den Hund fortzujagen. »Na, dann komm schon«, sagte Gilgamesch zu dem Tier. Und dann zogen sie Seite an Seite weiter durch die Nacht.
Als es wieder hell genug war, daß er etwas sehen konnte, erkannte Gilgamesch, daß er ans Ende der Schlucht gelangt war. Die Felswände öffneten sich hier und sanken zu bloßen Böschungen weitab zu beiden Seiten ab. Nördlich und südlich erhoben sich gewaltige Berge, die Flammen und Rauch ausrülpsten, der das Firmament verdüsterte. Vor ihm lag eine weite Ebene, auf der seltsame verstreute geisterhaft-verdrehte rosafarbene Steinmassen standen, ähnlich wie die Stalagmiten, die man zuweilen in Höhlen sehen kann, sie standen da zu Hunderten und sie sahen wahrhaftig aus wie eine Menge versteinerte Seelen, die sich eng aneinander drängten. Dahinter sah er ein Zeltlager, in dem sich Leute umherbewegten, und noch weiter hinten lag eine schimmernde Wasserfläche und darauf, dicht an der Küste, ankerte ein Schiff mit scharlachrotem Segel. Gilgamesch hatte das Weiße Meer im Fernen Westen erreicht.