In gleichmäßigen weiten Sätzen begann er durch die Reihen der merkwürdigen Steine auf das Zeltlager zuzulaufen. Männer in, wie ihm schien, römischer Kleidung blickten ihm entgegen.
»Wer bist du?« wollte ein Posten wissen.
»Ich bin Gilgamesch von Uruk. Ich suche nach meinem Freunde Enkidu, der…«
»Komm mit mir!«
»Weißt du, wo Enkidu ist?«
»Komm mit!« wiederholte die Wache gleichmütig.
Erschöpft ließ er sich durch das Lager zu einem Zelt bringen, das größer war als die übrigen und aus prachtvoll üppigem bunten Gewebe. Auf einer Art hölzernem Thron lümmelte ein Mann in mittleren Jahren, zur Kahlheit neigend, stattlich von Gestalt und mit einem fleischigen Gesicht voll roter Flecken und Augen, die gerötet waren von zu viel Wein und zu wenig Schlaf.
Der Posten sagte: »Wir entdeckten ihn, wie er draußen zwischen den Erstarrten Seelen umherwanderte, Majestät. Er sagt, er heißt Gilgamesch von Uruk und daß er auf der Suche ist nach einem…«
Der Mann auf dem Thron gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen. Er neigte sich vor und betrachtete Gilgamesch scharf und neugierig.
»Uruk?« sagte er. »Du kommst aus Uruk?«
»Es ist die Stadt meiner Geburt.«
»Wahrhaftig! Gilgamesch von Uruk… Uruk, ehrlich?«
»Aus Uruk, ja«, erwiderte Gilgamesch ein bißchen ärgerlich.
»Der Stadt gewaltiger Schätze«, sagte der auf dem Thron, und ein unwägbarer Ausdruck trat in seinen Blick. »Eine mir so sehr liebe Stadt. Wie erstaunlich, einem Mann zu begegnen, der aus Uruk kommt! Und warst du kürzlich dort, mein Freund?«
Gilgamesch sah ihn verdutzt an. »Wie könnte ich? Uruk ist lange dahin und fast vergessen.«
»Ist es das? Nein, das glaube ich nicht. Weder dahin noch vergessen, sondern nur schwer aufzuspüren, lauten jedenfalls die mir vorliegenden Berichte.« Der Mann sah ihn lange eindringlich an. »Doch vielleicht könnten wir es gemeinsam finden, du und ich.«
»Uruk war eine Stadt in der anderen Welt.«
»Und es ist auch in dieser Welt eine Stadt. Und viele Menschen deiner Art leben da.«
»Wirklich?« Gilgamesch war benommen. »Sie leben?« Das war unmöglich. In all seinen Jahren in der Nachwelt hatte er noch nie davon gehört. »Ein neues Uruk also? Wer sagt das? Wo ist es? Was erzählst du mir da?«
»Wo es liegt? Ach, das hoffe ich herauszufinden. Denn ich würde diesen Ort Uruk nur zu gern finden, verstehst du. Sein Reichtum übersteigt jede Berechnung. Sein Staatsschatz füllt zahllose Lagerhäuser. Wir könnten gemeinsam die Stadt finden, glaube ich. Wir haben ein großes Abenteuer nötig, wir Brasilier, und was könnte grandioser sein, als uns auf die Suche nach Uruk zu machen, wie? Gefällt dir der Gedanke, Freund Gilgamesch, mit mir zu ziehen und Uruk zu suchen?«
Mit wachsendem Unmut, der in Zorn überzugehen drohte, rief Gilgamesch laut: »Wer bist du? Was soll das alles? Ich suche Enkidu — nicht Uruk!«
»Wer ich bin? Hat es dir keiner gesagt?« Das Fleckengesicht lachte. »Ich bin der Herr der Insel Brasil. Mein Name ist Simon Magus. Da im Hafen ankert mein Schiff. Wir werden bald in meine Stadt aufbrechen, sie liegt gleich dort drüben in der Bucht. Willst du mit uns kommen? Ja, Gilgamesch, fahr mit uns nach Brasil.« Er winkte einem Diener. »Wein für Gilgamesch! Für Gilgamesch von Uruk!« Und erneut lachte er. »Fahr mit mir nach Brasil, ja. Und reden wir davon, wie wir die Schätze des lange versunkenen Uruk finden. Was hältst du davon, Gilgamesch? Eh?«
7
Überall war Feuer. Rotes Feuer am Himmel, blaues Feuer im Wasser, grünes Feuer tanzte am Gestade hinter dem rasch davongleitenden Schiff. Die Luft roch stechend nach Schwefel und nach noch Unangenehmerem. Die Wolken hier waren dicht und schwer und hatten graue Bäuche, die sich an den nahen Bergen rieben. Und die Berge selbst waren steinerne Dämonen: ein Dutzend zorniger Vulkane, die Dünste und Flammen über die Küstenebene spuckten, soweit Gilgameschs Auge reichte. Hier draußen am westlichen Rand der Nachwelt, jenseits der kahlen Steppenwüsten des Outback, gewann er den Eindruck, als verbrennte die ganze Welt bis zu ihren tiefsten Wurzeln.
Das Schiff mit dem Delphin am Bug und dem Scharlachsegel stach weiter und tiefer in die von Riffen übersäte phosphoreszierende See auf die Insel Brasil zu. Es war die königliche Yacht Simons des Magiers, des Diktators, der irgendwo unter Deck weilte, stark vom Wein berauscht.
Es hörte sich an wie Wahnsinn, dieses ganze Gerede davon, daß man Uruk finden wollte. Vielleicht aber war es doch nicht so verrückt. Es lohnte sich vielleicht, wenigstens zu hören, was Simon zu sagen hatte. Warum also nicht? Gilgamesch überlegte. Er wußte nichts von diesem angeblichen Uruk; doch falls es wahr sein sollte, daß seine Heimatstadt in der Nachwelt wieder gegründet worden war, und wenn diese Brasilier irgendeine Mär vernommen hatten, die ihm helfen konnte, ihren jetzigen Ort zu entdecken, weshalb sollte er dann nicht mit Simon einen Handel machen? Was war schließlich das Leben anderes in diesem endlosen Leben nach dem Tod, wenn nicht ein langes endloses Warum nicht? Er war wieder von seinem Enkidu getrennt. Also spielte sonst fast nichts eine Rolle. Warum sollte er diese Forschungsfahrt also nicht mitmachen? Warum nicht?
Der dunkelhaarige sumerische Riese sah starren Blicks nach Brasil hinüber. In der Ferne schimmerte die Zauberinsel im Halbdunkel in ihrem eigenen seltsamen Licht.
»Warst du schon mal da?« fragte eine Stimme.
Gilgamesch sah nach links und nach unten, sehr weit nach unten. »Sprichst du zu mir?«
»Nein, zu meinem Schatten«, sagte der Mann, der neben ihm an der Reling stand. Klein mit scharfer Nase, dichtes gelocktes Haar, dunkle ölige Haut. »Ich versuche ein Gespräch zu führen. Das ist eine alte Sitte an Bord von Schiffen. Hast du was dagegen?«
Gilgamesch streifte den Kleinen mit einem drohenden Blick. Der Mann hatte etwas Weiches, Glattes, Verwöhntes an sich. Er war gut gekleidet, eine römisch geschnittene Toga und glänzend polierte italienische Lederschuhe, und auf dem Hinterkopf hockte keß ein kleines Brokatkäppchen. Ein schlaues Gesicht. Funkelnde Knopfaugen von unleugbarer Intelligenz. Dennoch, etwas an ihm war grundsätzlich abstoßend, fand Gilgamesch. Und er war aufdringlich. Er war doch bestimmt auf einen Blick hin in der Lage zu erkennen, daß Gilgamesch nicht zu der Sorte gehörte, die von Fremden angesprochen werden möchten.
Ajax, der große gescheckte Hund, der neben Gilgamesch schlief, erwachte, spähte nach oben und knurrte. Wie es aussah, hatte auch Ajax nicht viel für diesen kleinen Mann übrig.
Gilgamesch sagte finster: »Ich kenne dich nicht.«
»Wer kennt schon jemand an diesem gottverlassenen Ort? Ich heiße Herodes. Herodes Agrippa, um genau zu sein. Und ich fragte dich soeben, ob du früher schon einmal in Brasil warst.«
»Kann sein.« Gilgamesch zuckte die Achseln.
»Kann sein? Du weißt es nicht sicher?«
Gilgamesch dachte daran, den zudringlichen kleinen Plagegeist über Bord zu werfen.
»Vielleicht, vielleicht nicht. Wenn du lange genug hin und her über die Nachwelt gewandert bist, sehen allmählich alle Orte ziemlich gleich aus.«
»Also, für mich nicht«, sagte Herodes. »Und ich bin auch ganz schön viel herumgewandert. Mehr als mir lieb ist. Ein richtiger Ewiger Jude, das bin ich. Aber Brasil, das ist anders. Ich weiß, ich weiß, Erinnerung ist hier manchmal problematisch, doch wenn du einmal in Brasil gewesen wärest, dann würdest du dich daran erinnern. Es ist unvergeßlich. Du kannst es mir glauben.«
»Ein ewig wandernder Jude?« sagte Gilgamesch unbestimmt. »Ich glaube, ich habe so eine Geschichte einmal gehört.«
»Wer hätte nicht? Aber ich bin nicht der ewig wandernde Jude, weißt du? Der heißt Ahasver. Der zockelt immer noch kreuz und quer herum, droben, so wie es damals mit seiner Verfluchung bestimmt war. Muß über die Erde ziehen, bis das Ende der Welt gekommen ist, was anscheinend bisher noch nicht der Fall ist. Nein, ich bin einfach nur ein Jude, der umherwandert. Ein anderer. Und ich heiße Herodes.«