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»Das hast du mir bereits gesagt.« Aufdringlicher kleiner Köter, wahrhaftig, dachte Gilgamesch. Nach seinen impertinenten Manieren allein müßte man ihn für einen der Späten Toten halten. Dennoch strahlte der Mann auch etwas wie eine Aura der Frühen Toten aus. Ein Grenzfall vielleicht. Aus der Zeit, die die Später Toten ungenau als die Periode ›vor Chr.‹, beziehungsweise den Übergang in die Zeit ›nach Chr.‹ bezeichneten. Gilgamesch grub in den etlichen tausend Jahren seiner Erinnerungen. »Einmal bin ich einem Herodes begegnet. Der war so eine Art kleinerer Wüstenfürst, denke ich.«

»Also eigentlich war er ja König von Judäa.«

»Wenn du es sagst.«

»Ein Mann mit feistem Gesicht, kahlem Schädel, blutgeröteten Augen?«

»Könnte sein. Er sah irgendwie halb verwest aus, so weit kann ich mich noch erinnern. Wie eine Frucht, die man zu lange im Regen hat liegen lassen.«

»Du meinst Herodes den Großen. Meinen Großvater. Ein höchst ekelhafter Mann, dieser Herodes. Nein, wirklich, ein sehr übler Typ. Zehn Weiber! — daraus allein kannst du schon sehen, wie unsolid er war. Und dazu noch andere Charakterschwächen. Im Grunde ein völlig paranoider Typ. Obwohl, diese ganzen häßlichen blöden Sachen mit Salome und dem Täufer Johannes, dem Tanz der Sieben Schleier und das mit dem silbernen Tablett — das war gar nicht er, mußt du wissen. Das war sein Sohn Herodes Antipas; aber der war genauso verrückt. Und in Wahrheit ist das alles auch überhaupt nicht so passiert. Das mit dem Silbertablett und dem Kopf darauf, das war eine bloße Erfindung, und was diese Salome angeht…«

»Silbertablett? Salome? Kleiner Mann, wovon schnatterst du denn da?«

»Andererseits«, fuhr Herodes fort, als hätte Gilgamesch nichts gesagt, »hat mein Großvater tatsächlich die Abschlachtung der Erstgeborenen befohlen, einschließlich seines eigenen Sohnes. Der Mann war verrückt. Es wundert mich nicht, daß du ihn nicht mochtest. Aber er hat sich persönlich mit Augustus ganz hübsch arrangiert. Augustus war immer bereit, Geschäfte mit Verrückten zu machen, wenn er dabei politische Vorteile für sich selber herausspringen sah. Und das dürfte die einzige vernünftige Erklärung dafür sein, wieso mein Großvater sich unter den Römern so lange auf dem Thron halten konnte. Aber wie ich höre, mag Augustus derzeit überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben. Da steckt Cleopatra dahinter. Denn Cleopatra haßt ihn noch immer — der alte Knabe hat sie abfahren lassen, als sie ihm Avancen machte, mochte ihre Nase nicht oder so etwas in der Richtung, aber das muß man sich mal vorstellen, über weiß Gott wie viele Jahrhunderte so einen dummen kleinen Groll mitzuschleppen…«

»Du summst wie eine Wespe«, murrte Gilgamesch. »Hörst du nie auf zu reden?«

»Also ja, ich rede gern. Du anscheinend nicht, vermute ich. Der große starke Schweigsame. Bloße Stilvarianten, kein Grund sich deswegen zu ärgern. Oh, also wirklich, da sieh hin — da kommt unser Vesuv wieder!«

»Wer ist Vesuv?«

Herodes deutete auf die Inselstadt. »Unser Hausvulkan. Benannt nach dem, den sie damals in der anderen Welt über Pompeji hatten. Unsrer liegt mitten im Zentrum. Hast du je sowas Großartiges gesehen?«

Gilgamesch blickte über den Sund zu dem fernen Brasil hinüber. Im Firmament hing nun ein neues Feuer, ein einzelner hellscharlachroter Lichtpunkt, der durch die trübe rauchgeschwängerte Luft flammte wie eine Fackel, fünfzigmal heller als die Flammen, die aus den Vulkanschloten auf dem Festland züngelten. Wie von einem riesenhaften Blasebalg angefacht, stieg die Flammenfackel höher und höher bis ans Dach des Kosmos. Und die Türme und Wälle der Stadt erstrahlten in der blendenden Helle sinnverwirrend wie leuchtende Spiegel.

»Aber die Stadt?« fragte Gilgamesch. »Wird sie zerstört werden?«

Herodes lachte. »So einen Ausbruch wie den gibt es fast jede Woche einmal. Manchmal auch öfter. Die Brasilier möchten das nicht missen. Aber es wird dabei kein Schaden angerichtet. Bloße Lichtspiele und keine Hitze, so lautet die Vertragsklausel. Und nie jemals irgendwelche feste Materieteilchen. Du hast doch von Pompeji gehört, ja? Das gehörte zu Rom. Ich meine, zu dem echten alten Rom, dem Original. Und wir haben eine Menge ehemaliger Pompejaner, die jetzt hier in Brasil leben. Und so wie seinerzeit im neunundsiebziger Jahr Pompeji niedergewalzt worden ist, kann es einen ja nicht sehr erstaunen, daß die Brasilier hier nicht unbedingt scharf sind auf eine Wiederholung. Ich spreche vom Jahr 79 n. Chr. verstehst du? Also nach der Jahresberechnung der Später Toten. Falls dir überhaupt daran liegt, deine Jahre zu berechnen. Jedenfalls war es nach meiner eigenen Zeit, wahrscheinlich auch nach der deinigen. Aber wenn du mit einem sprichst, der damals dabei war und jetzt in Brasil lebt, dann sagt der dir, es war ein absoluter Horror, aber er wird dir ebenfalls sagen, er kann nachts nicht richtig schlafen, wenn nicht in der Nähe ein mittelprächtiger Vulkan vor sich hingrummelt. Verblüffend, wie sich manche Leute nicht nur an Gefahr gewöhnen, sondern geradezu davon abhängig werden, ständig bedroht…«

Gilgamesch hörte ihm kaum zu. Er starrte in den vom Vulkanfeuer zerfetzten Nachthimmel. Durch die plötzliche glühende Illumination waren Scharen von Ungeheuern und Dämonen der Luft sichtbar geworden. Wesen, die nur Maul waren, ohne Leib; Wesen, die nur kopflose Flügel waren; Wesen, die nichts waren als Krallen und Klauen; Wesen, die aus riesigen gelben, rotgeäderten Augen bestanden, die auf grünen Gasschwaden trieben, und alles wirbelte durcheinander und kreischte hoch über der See. Ajax knurrte und bellte und rannte über das Deck hin und her, sprang wild in die Luft, als wollte er die Ungeheuer angreifen, die sich am Himmel tummelten.

Herodes lachte. »Simons Schoßtierchen. Ich habe es dir ja gesagt, wenn du Brasil einmal erlebt hast, vergißt du es nie wieder. Wohin du schaust, Dämonen. Und Genies. Zauberer. Magier, Traumdeuter. Wahrsager. Simon sammelt sie, verstehst du? Du kannst keine neun Schritte tun, ohne daß einer von denen versucht, dich mit seinen Tricks umzukrempeln.«

»Sie mögen es versuchen«, sagte Gilgamesch.

Er zielte mit einem imaginären Bogen und schoß einen imaginären Pfeil in die Gurgel eines der widerlichsten Ungeheuer in der Höhe.

»Oh, dich würden sie in Frieden lassen, glaube ich. Ein Mann von deiner Größe, wer würde es wagen, sich mit dem anzulegen? Außerdem siehst du mir so aus, als verfügtest du selbst über ein Quantum magischer Kräfte. Simon hat dich als seinen Leibwächter engagiert, ja?«

»Ich bin kein Söldner«, erwiderte Gilgamesch scharf.

»Nein? Du siehst aber aus wie ein Kämpfer.«

»Ein Kämpfer, das ja. Aber niemals für Geldeslohn. Außer einmal, als ich noch ein Junge war und im Exil. Ich war ein König.«

»Ach. Ein König! Dann haben wir ja etwas gemeinsam. Ich war nämlich auch König, weißt du.«

»Wirklich?« fragte Gilgamesch desinteressiert.

»Ja, so vier, fünf Jahre lang, nachdem Caligula meinen elenden Onkel Antipas endlich aus Judäa verjagt hatte und mir die Herrschaft übergab. Bei meinen Untertanen war ich ziemlich beliebt, wenn es dich nicht stört, daß ich das sage. Ich denke, ich habe meine Arbeit recht gut gemacht, und wenn ich nur ein wenig länger gelebt hätte, ich glaube, es wäre mir gelungen, die Christenbrut auszulöschen, bevor sie richtig in Fahrt kam, und damit hätte ich der ganzen Welt sechs Scheffel voll Ärger erspart, aber…« Herodes brach ab. »Du bist nicht etwa selber zufällig einer von denen, oder? Nein, nein, so siehst du wirklich nicht aus. Aber du sagst, du warst ein König. Wo denn, wenn ich fragen darf? Irgendwo draußen, Richtung Armenien vielleicht? Kilikien?«