Herodes sah ihn eindringlich an. »Aber Simon glaubt, du weißt etwas.«
»Wirklich? Das Wenige, was ich über das neue Uruk weiß, habe ich von Simon erfahren.«
»Ach so. Ich beginne zu begreifen.«
»Zum erstenmal hörte ich etwas davon«, fuhr Gilgamesch fort, »als ich Simon drüben in der Bucht der Hammenden Berge traf. Es gibt in der Nachwelt eine Stadt namens Uruk, sagte er zu mir. Und er sagte, dieses Uruk ist der Stadt aus meinen Lebenstagen ziemlich ähnlich, und es leben dort Menschen meines Volkes. Es ist eine Stadt, sagte er, voll sagenhaften Reichtums und Wohlstand.«
»Aha. Jetzt beginnt sich das wahre Bild abzuzeichnen«, sagte Herodes.
»Er fragte, ob ich mich an einer Expedition nach diesem Uruk beteiligen möchte. Seine Soldaten langweilen sich und brauchen Abenteuer, sagte er.«
»Ja, und er sehnt sich nach Schätzen.«
»Den Schätzen dieses Uruk?«
»Irgendwelchen Schätzen«, sagte Herodes. »Hast du — dir nicht die Mauern und Türme dieser Stadt angesehen? Er hat alles mit Smaragden, Rubinen, Saphiren und Diamanten vollgepflastert. Mit Edelsteinen, deren Namen niemand kennt, weil man sie auf der Erde nie sah, da sie nur hier in der Nachwelt gefunden werden. Seine Gier nach auffallenden Klunkern ist unersättlich. Fünf Alchimisten sind den ganzen Tag hindurch damit beschäftigt, neue Steine für ihn herzuzaubern, und die ganze Nacht dazu, aber natürlich halten ihre Steine nicht lange. Er giert nach dem echten Zeug. Und wenn dieses Uruk große Schätze hat, dann lechzt Simon nach ihnen.«
»Ich hätte ihn für weiser gehalten.«
»Oh, er besitzt große Weisheit. Doch hier ist die Nachwelt, Gilgamesch, und hier verleitet der Zerfall der Zeit auch kluge Männer zur Torheit. Und er liebt nun einmal funkelnde Steine.«
»In Uruk gab es überhaupt keine Steine«, sagte Gilgamesch betont. »Wir errichteten unsere Stadt aus Lehmziegeln. Wir hatten weder Smaragde noch Rubine.«
»Ja, aber das war dein Uruk. Simon dagegen will das Nachwelt-Uruk finden. Und er glaubt, du kennst den Weg dorthin.«
»Ich sagte ihm aber, ich weiß ihn nicht.«
»Er glaubt, du lügst«, sagte Herodes freundlich.
»Dann ist er ein noch größerer Narr. Ich bin zweimal so lange wie dein Simon hier in der Nachwelt, oder noch länger. Kommt ihm denn nicht der Gedanke, daß ich in dieser ganzen Zeit etwas davon gehört haben müßte, wenn meine Landsleute sich hier ein neues Uruk erbaut hätten?«
Herodes schaukelte auf der Fensterbank langsam vor und zurück und lächelte in sich hinein. »Ihr zwei habt euch gegenseitig ganz schön verarscht, nicht?«
»Was?«
»Der hehre Held Gilgamesch und das schlaue Schlitzohr Simon haben sich gegenseitig bis zum Hintern ausgetrickst. Er glaubt, du kannst Uruk für ihn finden. Du glaubst, er findet es für dich. Und ihr glaubt alle beide, daß der andere das Geheimnis weiß, wo Uruk liegt. Aber in Wahrheit hat keiner von euch eine Ahnung, wo der Ort liegt.«
»Also, ich jedenfalls nicht.«
»Simon ebenfalls nicht, versichere ich dir.«
»Also, wie…?«
»Vor einiger Zeit stellte sich ein betrügerischer Herumtreiber bei Simon ein. Ein gewisser Hanno, ein Karthager, der vorgab, ein Kartograph zu sein. Du weißt, wie zuverlässig Landkarten in der Nachwelt sind, Gilgamesch? Also, dieser Hanno begann Geschichten über die Schätze von Uruk zu erzählen, und Simons Augen begannen zu leuchten wie die Edelsteine, nach denen er so sehr giert. Wo finde ich dieses Uruk? fragte Simon. Und Hanno drehte ihm eine Landkarte an. Dann verschwand er. Also, ich sage es ja immer, wenn Römer anfangen, Landkarten von Karthagern zu kaufen, dann kann dabei nichts Gutes herauskommen. Einen Tag nach dem Verschwinden Hannos aus Brasil brachte mir Simon voller Stolz die Karte an und erzählte mir das Ganze. Wir wollen einen Eroberungszug planen, sagte er. Und er rollte die Karte vor mir auf. Und die Linien liefen alle kreuz und quer durcheinander, so daß man Augenschmerzen bekam, wenn man ihnen zu folgen versuchte, und noch während wir hinsahen, veränderten sie sich und zerflossen. Und fünf Minuten später war die Karte leer, nichts weiter als ein blankes Stück Dämonenhaut. Ich dachte schon, Simon trifft der Schlag. Uruk! Uruk! Mehr konnte er nicht stammeln. Wieder und immer wieder. Und er grunzte dabei wie dieser Haarmensch, den er um sich hat. Und daraufhin segelten wir aufs Festland hinüber, wo aus dem Outback eine Karawane erwartet wurde, irgendwelche Schurken und Gauner, die mit gestohlenen Edelsteinen handeln. Mit ihnen trieb Simon Handel. Er hat seine dicken Finger in — allen möglichen Geschäften dieser Art. Ich darf mich da nicht einmischen. Und was erfahren wir? Daß zwei riesenhafte Sumerer mit dem Zug reisen, und der eine von ihnen ist Gilgamesch, der König von Uruk! Schon wieder Uruk! Die Karawane kommt nicht, man hört, sie ist von Räubern im Paß überfallen worden. Aber Gilgamesch erscheint. Und das kann Simon dem Magier nur recht sein. Was bedeutet ihm schon der Verlust von ein paar Kästchen voller Edelsteine, wenn er die Aussicht bekommt, ganz Uruk zu plündern? Verstehst du, Gilgamesch? Er möchte, daß du ihn nach Uruk führst, damit er es ausrauben kann!«
»Ich wäre besser in der Lage, ihm das Paradies zu zeigen, als das. Hier in der Nachwelt gibt es kein Uruk, Herodes.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Wer könnte hier schon in irgendeinem Ding sicher sein? Aber wieso habe ich noch nie etwas davon gehört, wenn es tatsächlich existiert?«
»Die Nachwelt ist ziemlich groß, Gilgamesch. Keiner kann von sich sagen, er hätte sie gänzlich erforscht. Vielleicht wächst sie ja von Tag zu Tag weiter, so daß niemand jemals alles von ihr sehen kann, auch wenn er keinen Augenblick lang rastete und ruhte. Ich reise seit zweimal tausend Jahren hier umher — und ich habe noch nicht ein Zehntel davon gesehen, vermute ich mal. Und du, der du so viel älter bist als ich — sogar du, möchte ich wetten, bist fremd in vielen Bereichen der Nachwelt. Du selbst hast mir doch gesagt, daß du nie zuvor in Brasil warst.«
»Zugegeben. Aber Uruk — eine von uns Sumerern erbaute Stadt, bewohnt von Sumerern —, nein. Nein, es ist nicht möglich, daß es so etwas gibt, ohne daß ich davon wüßte.«
»Außer du wußtest es einst und hast es vergessen.«
»Ebenfalls unmöglich!«
»Wirklich? Du weißt doch, wie das hier mit dem Erinnerungsvermögen geht.«
»Nun…«
»Du weißt es, Gilgamesch!«
»Aber wie könnte ich denn je meiner eigenen Stadt vergessen! Nein. Nein, es gibt in der Nachwelt kein Uruk«, sagte Gilgamesch mürrisch. »Nimm es als die Wahrheit hin, oder laß es, wie du magst, König Herodes. Ich weiß, was da wahr ist und was falsch.«
»Also ist das Ganze nichts als Erfindung?«
»Völlig! Eine Ausgeburt der Phantasie dieses Hanno.«
»Aber weshalb sollte er sein Phantasieprodukt Uruk nennen? Nach einer Stadt, die von der Zeit selbst vergessen wurde, wenn das, was du behauptest, wahr ist?«
»Wer kann das wissen? Vielleicht ist der Mann mir einst begegnet und ich sagte ihm, woher ich komme, und der Name hakte sich in seinem Gedächtnis fest. Ich bin in der Nachwelt nicht gerade ein Unbekannter, Herodes.«
»Ja, wahrhaftig, das ist so.«
»Es gibt kein neues Uruk. Simon gibt sich da einem Hirngespinst hin. Und wenn er glaubt, ich wüßte den Weg, wie er dorthin gelangen kann, dann täuscht er sich doppelt.«
Herodes schwieg eine ganze Weile.
Dann sagte er: »Dann beantworte mir doch diese Frage, Gilgamesch: Wenn dieses Uruk nicht wirklich existiert, weshalb hast du dann deine Bereitschaft erklärt, dich mit Simon zusammenzutun, um diesen nicht-existierenden Ort mit einer Expedition zu suchen?«
»Weil…«, sagte Gilgamesch ganz zögerlich, »mir der Gedanke kam, daß ich mich möglicherweise irren könnte, daß es vielleicht doch einen Ort namens Uruk gibt und mir das nur aus der Erinnerung entschlüpft ist.«