Выбрать главу

Herodes Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Was? Es ist keine zwei Augenblicke her, daß du mir genau das Gegenteil sagtest!«

»Hab’ ich das?« sagte Gilgamesch. »Schön, dann sei’s so.«

»Du hast eine sehr kuriose Art zu scherzen, lieber Freund.«

Gilgamesch lächelte. »Herodes, aus ehrlichstem Herzen bin ich davon überzeugt, daß dieses Uruk, das sich Simon da erträumt, ein bloßes Hirngespinst ist, ein Mythos. Aber schließlich sind wir hier in der Nachwelt. Hier ist nichts, wie wir es uns erwarten. Da war dein Simon und sagte mir, er hat wundersame Geschichten über Uruk gehört. Mir kam das recht verrückt vor, aber was, wenn ich mich geirrt haben sollte? Ich muß doch zumindest die Möglichkeit einräumen, daß ich mich geirrt haben könnte. Wie du sagst, die Nachwelt ist so weitläufig und jenseits des menschlichen Begriffsvermögens groß. Was weiß denn ich, vielleicht gibt es ja ein Uruk irgendwo weit hinten an diesem unbegreiflichen Ort, und durch einen üblen Zufall habe ich nichts davon erfahren. Und nun bietet mir der mächtige Herrscher Simon die Chance an, danach zu suchen. Weshalb sollte ich das ablehnen? Was kann ich dabei schon verlieren?«

»Die einzige Information, die Simon über Uruk hat, ist absoluter Unsinn. Er setzt darauf, daß du ihm die Leerstellen auf seiner Karte ausfüllst.«

»Dessen war ich mir nicht bewußt.«

»Er gedenkt dich zu benutzen. Er will sich von dir nach Uruk führen lassen, falls es einen solchen Ort gibt, und er will sich von dir dabei helfen lassen, diese ganzen Schatztruhen voller kostbarer Steine in die Finger zu bekommen, von denen Hanno schwafelte. Und als Gegenleistung will er dich als König von Uruk einsetzen.«

»Du weißt genau, daß ich nicht den Wunsch hege, König über irgendeine Stadt zu sein. Ganz besonders nicht über eine, die gar nicht existiert.«

»Aber das weiß Simon nicht. Er glaubt, du wirst gierig nach dieser Chance greifen.«

»Ich sagte dir bereits, ich will nur Enkidu finden.«

»Deinen verlorenen Freund?«

»Meinen Freund. Meinen Jagdgefährten. Meinen wahren Bruder, der mir näher ist als ein leiblicher Bruder.«

»Und wo könnte er sein?«

»Er ist verschwunden. Auf rätselhafte Weise. Er hat sich in Luft aufgelöst. Oder er verschwand in den Eingeweiden der Erde. Man muß ihn verschleppt haben.«

»Wer?«

»Ich weiß es nicht. Die Räuber, die van der Heydens Wagenzug überfielen, vermute ich. Aber ich werde ihn suchen.«

»Selbst wenn die Chance ihn zu finden ungefähr so gering ist wie die, Uruk zu entdecken?«

»Immerhin weiß ich, daß Enkidu existiert.«

»Aber er könnte doch überall sein. Millionen Meilen weit weg. Zehn Millionen. Er könnte tot sein. Wer kann es wissen. Du suchst vielleicht tausend Jahre nach ihm und findest ihn doch nie wieder.«

Achselzuckend sagte Gilgamesch: »Ich habe ihn bereits früher verloren und doch wiedergefunden. Ich werde ihn auch diesmal finden, selbst wenn es mich tausend Jahre kosten sollte, Herodes, soll es mir auch recht sein. Was bedeuten mir schon tausend Jahre? Was zehntausend?«

»Und inzwischen?«

»Inzwischen, was?«

»Uruk«, sagte Herodes. »Was gedenkst du in der Sache zu tun, jetzt wo du weißt, daß Simon dich austricksen will? Ziehst du trotzdem mit ihm auf diese verrückte Expedition? Wobei er hofft, du kennst wirklich den Weg oder kannst ihn wenigstens irgendwie finden — und du bist absolut sicher, daß es den Ort nicht gibt, betest aber, daß du ihn trotzdem irgendwie finden wirst?«

Das Wespengesumm von Herodes begann Gilgamesch wieder lästig zu werden. Der kleine Kerl bohrte und nagte und drängte und manövrierte unablässig herum. Was verfolgte er damit?

Gilgamesch trat zu der Fensterbank und baute sich drohend über ihm auf. »Weshalb machst du dir derart große Sorgen wegen dieser Uruk-Expedition, Herodes?«

»Weil das für mich nur einen Berg von Unannehmlichkeiten bedeutet.«

»Unannehmlichkeiten? Für dich? Wieso?«

»Wenn Simon mit dir gottweißwohin auf einen Kreuzzug auszieht, dann sitze ich hier fest und muß mich um den Laden kümmern, bis er wieder da ist. Und das kann ein paar Jahrhunderte dauern. Und dann muß ich versuchen, dieses ganze Irrenhaus hier zu verwalten. Als sein Vizekönig, verstehst du? Als Regent, während er weg ist. Du glaubst doch nicht, daß ich darauf scharf bin? Brasil steckt bis unter die Dachkammern voll von verrückten Militärs, von denen die meisten unterbelichtete Kotzbrocken sind, die mich am liebsten abmurksen möchten, oder dich, oder sich gegenseitig, und wenn die nicht schon genug Ärger bedeuten, dann gibt es da noch alle diese Zauberer, die die Luft mit ihren Anrufungen blau verfärben, und eine ganze Menge von denen sind leider ziemlich wirksame Beschwörungen. Ich würde hier den Verstand verlieren, wenn Simon nicht da ist, um seine Pranke auf allem zu halten.«

»Wenn es dir eine so große Last ist, Regent in Brasil zu sein, König Herodes, könntest du doch leicht mit uns auf die Suche nach Uruk gehen.«

»Na, wunderbar! Was für eine Alternative! Hundert Jahre lang Tag und Nacht durch eine gottverlassene Wildnis zu marschieren und einen Ort zu suchen, den es gar nicht gibt!« Herodes schüttelte den Kopf. »Meschuggene, das ist es, was ihr alle seid. Aber ich bin bei klarem Verstand.«

»Und falls es Uruk doch gibt?«

»Und falls es es nicht gibt?«

Gilgamesch spürte, wie ihm der Rest seiner Geduld zu entgleiten drohte. »Ja, dann zieh doch an einen anderen Ort! Du brauchst doch nicht in Brasil zu bleiben. Besorg dir ein Landhäuschen in Nova Roma, oder laß dich von einem der Fürsten im Outback aufnehmen. Du könntest dich bei den Israelis niederlassen, beispielsweise. Die sind doch auch Juden wie du, oder?«

»Juden, ja«, sagte Herodes verdrießlich. »Aber nicht meinesgleichen. Ich verstehe sie ganz und gar nicht. Nein, Gilgamesch, all das will ich nicht. Mir gefällt es hier. Brasil ist mein Zuhause. Ich habe mich hier ganz hübsch eingerichtet, habe eine angenehme bequeme Position, und ich habe kein Verlangen danach, irgendwo anders zu leben. Aber wenn Simon…«

Auf einmal bebte der Boden unter ihren Füßen, als brächen Ungeheuer durch die Mosaikböden in Simons Palast.

»Was ist denn das?« fragte Gilgamesch.

»Der Vesuv!« rief Herodes. Er fuhr zum Fenster herum und starrte in die Dämmerung hinaus. Wieder wankte der Boden, heftiger als zuvor, und dann erklang ein schreckliches Grollen. Gilgamesch schob den Kleinen beiseite und beugte sich aus dem Fenster. Ein roter Flammenspeer durchschnitt sinnverwirrend die Dunkelheit. Und dann ein erneutes Brüllen und noch eins und noch eins, zornig wie das Röhren eines gewaltigen Tiers, das ausbrechen will. Vom Rand des mächtigen Vulkans in der Mitte der Inselstadt stürzten Bäche brodelnder Lava herab, Schauer von Bimsstein hagelten nieder, erstickende dicke schwarze Rauchwolken wälzten sich herab, und durch all dies hindurch stach diese scharlachrote Feuerlanze höher und immer höher hinauf. Und so furchtlos Gilgamesch war, er mußte den instinktiven Wunsch unterdrücken, fortzulaufen und sich zu verkriechen.

Verkriechen? Aber wo? Hier an den Abhängen des gräßlichen Feuerberges gab es nirgends Sicherheit und Schutz.

»Laß mich mal sehen!« Herodes zerrte an Gilgameschs Arm. Er keuchte. Das Gesicht war von Schweißbächen überströmt. Er zwängte sich an Gilgameschs Ellbogen vorbei und streckte den Kopf vor, um besser sehen zu können. Wieder erbebte der Boden unter ihren Füßen. »Grandios!« flüsterte Herodes. »Unglaublich! Der beste Ausbruch, den es je gab!« In seiner Stimme schwangen gleichermaßen Furcht und Ehrfurcht mit. Langsam begann Gilgamesch zu begreifen, daß dieser besondere Vulkanausbruch Herodes einen außerordentlichen Lustgewinn bereitete. Er sah völlig umgewandelt aus. Seine Augen glühten und funkelten, ja es war, als pulsierten in ihm eine Art sexueller Erregung. Er war beinahe außer sich vor Wonne. »Zweimal in zwei Nächten! Es ist phantastisch! Grandios! Begreifst du, warum ich nie von hier fortgehen möchte, Gilgamesch? Ich könnte es nicht! Du mußt es Simon ausreden, diesen Kreuzzug und die Suche nach Uruk. Ich flehe dich an!«