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Im trübroten Licht der umwölkten Sonne zog Gilgamesch am Tag danach durch die Straßen von Brasil. Bei Enlil, hatte es in der Welt jemals solch eine Stadt gegeben? Hexerei und Teufelswerk an allen Ecken und Enden!

Straßen, die sich in engen Spiralen wieder in sich selbst zurückwanden, wie die Schleimspur einer betrunkenen Schnecke. Schmale hochgewölbte Gebäude, die ihrerseits ebenfalls wie Schnecken aussahen, die sich gleich anschicken würden fortzukriechen. Schwarzbelaubte Bäume mit trauertriefenden Zweigen, von denen seltsame Seufzer kamen, wenn man ihnen nahekam. Und allüberall der Staubgeruch von der Vulkaneruption der verflossenen Nacht, flockige Staubteilchen tanzten dunkel in der Luft und knisternde feurige Funken, die flüchtig brannten, wenn sie die Haut berührten.

Hände zupften an ihm, während er rasch seiner Wege ging. Aus Türen und Toreingängen winkten ihm Augen unter halbgesenkten Lidern zu. Einmal rief jemand seinen Namen, doch er sah den Menschen nicht. Ajax, der hinter ihm dreintrottete, hielt immer wieder an und knurrte und jaulte und sträubte sogar das Rückenfell und spuckte, als wäre er kein Hund, sondern eine Katze, aber die Feinde, die Ajax sich einbildete, blieben für Gilgamesch unsichtbar.

Ab und zu schweiften über den Dächern feueräugige Flugdämonen durch die Stadt, aber niemand schenkte ihnen Beachtung. Häufig ließen sie sich irgendwo nieder, ruhten, putzten sich das Gefieder wie lebendig gewordene Wasserspeier, schlugen mit den starken Schwingen die Luft und fächelten den unter ihnen Vorbeigehenden dumpfen Aasgeruch zu. Gilgamesch sah, wie eines der aufgebäumten Flugwesen plötzlich schwankte und abstürzte, als hätte eine plötzliche tödliche Starre es befallen. Kleine wieselnde schimmernde Tierchen tauchten aus irgendwelchen Spalten in den Abflußrinnen der Straße auf und stürzten sich darauf. Sie fraßen es auf, noch ehe Gilgamesch ans Ende der Straße gelangt war, und ließen nur Fetzchen ledriger Sehnen zurück.

Wenn er in die Ferne blickte, glaubte er dort am Himmel jenseits der Stadt eine durchscheinende Wand zu sehen, die Brasil von der übrigen Nachwelt trennte. Sie schimmerte in weißbläulicher kühler Schärfe, und ihm schien, als befänden sich außerhalb von ihr monströse Geschöpfe, nicht die gewöhnlichen Tierdämonen, sondern andere, noch scheußlichere, ganz rote Schnäbel und Schlangenhälse und weite Schwingen, mit denen sie gegen die Mauer schlugen, die sie fernhielt. Doch wenn Gilgamesch dann blinzelte und erneut hinsah, war da nichts Ungewöhnliches mehr, außer den schweren Wolken und dem düsteren Schimmer des Sonnenlichts, das durch sie hindurchzudringen versuchte.

Dann vernahm er einen Ton, einen Klang wie von einer Glocke. Aber der Klang war irgendwie verkehrt. Zuerst kam das ersterbende Verklingen, dann das Anschwellen des Volumens, dann der erste dröhnende Anschlag des Klöppels, dann Stille, dann erneut das Verhallen bis zurück zum Aufprall des Klöppels und dem anschwellenden Getöse:

mmmmmmmmmuuuuu-MMMMMMNGB!

mmmmmmmmuuuuuMMMMMMM-MNGB!

Der Lärm war betäubend. Gilgamesch stand ganz still da und überließ sich dem Gefühl der Zeit, die wie eine ungeheure Bürde davonglitt, bei jedem schweren Glockenschlag schälten sich Jahrhunderte von ihm ab. Und wie auf einem Wandschirm in der Luft vor sich sah er sein ganzes Leben in der Nachwelt in umgekehrter Abfolge verlaufen, die vieltausendjährigen ziellosen Wanderungen verkürzten sich zu einer wilden, rasend schnellen verrückten Bilderflucht, alles überstürzt, verschwommen, ineinander geschoben, als wäre es an ein und demselben Tag geschehen: Gilgamesch hier, Gilgamesch da, sein Schwert schwingend, den Bogen spannend, diese und jene Teufelsbestie erschlagend, unmögliche Felsberge ersteigend, glitzernde Seen durchschwimmend, durch glutheiße Sandwüsten trabend, in Orte und Städte tretend, die schief und krumm und verdreht waren wie die Orte, an die man in Träumen gerät, wie er in die fernsten Regionen voller Fremdartigkeit vordrang, im Norden, wo gewaltige elfenbeinfarbene walzenförmige Riesentiere einer unbekannten Art rätselhafte Dinge trieben. Gerade rang er fröhlich mit Enkidu, gleich darauf beobachtete er die hereinbrandenden lauten Horden der Später Toten, die alles mit ihren gräßlichen lauten Maschinen und ihren Waffen und ihren ekelhaft stinkenden Fahrzeugen überschwemmten. Und dann war er in Lenins Villa in Nova Roma, mitten unter seine wenig appetitliche Gruppe von eisäugigen Verschwörern und boshaften, zickigen Königinnen. Und dann saß er in der Festhalle des Königs der Eisjäger Vy-otin, grölend und saufend, und Enkidu an seiner Seite lachte und scherzte, und Agamemnon war da und Amenhotep und der Minos aus Kreta und Varuna, der Melukkerkönig, alle seine Gefährten aus den frühen Tagen der Nachwelt. Wie lange war das schon her! Und nun…

»Sei gegrüßt!« kreischte ein Weib, stürzte sich auf ihn und umklammerte sein Handgelenk. »Errette uns vom Untergang, großer König!«

Gilgamesch starrte die Frau verblüfft an. Eigentlich noch keine Frau, ein Mädchen war sie. Und er kannte sie. Er hatte sie einst gekannt. Hatte sie sogar geliebt. In einem anderen Leben und weiter Zeitenferne, auf der anderen Seite der großen Grenze von Leben und Tod. Denn es war das Gesicht der mädchenhaften Priesterin Inanna, die er so hastig und so leidenschaftlich im alten Uruk umarmt hatte, in jenem Leben vor diesem Leben! In den vielen Jahren in der Nachwelt hatte er mehr als einmal an eine Wiederbegegnung mit der Inanna gedacht, ja sogar erwogen, sie zu suchen, doch er hatte das nie in die Tat umgesetzt. Aber daß er jetzt hier in Brasil ihr so einfach zufällig wieder begegnen sollte…

Aber war er überhaupt noch auf der Insel? Noch in der Nachwelt?

Um ihn herum wirbelte alles. Dichter Nebeldunst sammelte sich um ihn. Die Erde dampfte ihre Feuchte aus. Ihm war, als sähe er die Wallmauern von Uruk am Ende der Straße auftauchen, die gewaltige weiße Treppenplattform der Tempel, die ehrfurchtgebietenden Statuen der Götter. Und tausendmal tausend Zungen, die seinen Namen brüllten. Gilgamesch! Gilgamesch! Und am Firmament strahlte statt der trüben roten Glut die helle gelbe Sonne des LANDES, die er so unvorstellbar lange nicht mehr gesehen hatte, und verströmte ihre ganze mittsommerliche Kraft.

Was bedeutete dies? Hatte ihn die Glocke ganz aus dieser Welt hinausgehoben und in jene andere zurückversetzt, in die Welt seiner Geburt und seines Todes? Oder erfuhr er hier nur einen Wachtraum?

»Inanna?« fragte er verwundert. Wie schlank und schmal sie war! Wie jung! Blaue Perlenschnüre umschlangen ihre Mitte, rosafarbene Muschelamulette waren in die Spitzen ihrer Haare geflochten. Ihr Körper war nackt, an den Flanken und vorn mit dem Schlangenmuster bemalt. Und die dunkel gefärbten Spitzen der Brüste… ihr scharfes aufreizendes Parfüm…

Dann sprach sie erneut, diesmal rief sie ihn beim Namen seiner Namen, dem geheimen persönlichen Namen, mit dem ihn niemand seit Tausenden von Jahren angesprochen hatte, seit der Zeit, da er selbst noch ein halber Knabe gewesen war und ihm der Mantel der Königswürde auf die Schultern gelegt wurde und er zum ersten Mal seinen Königsnamen, brausend wie einen Fluß, in den Ohren vernahm: Gilgamesch, Gilgamesch, Gilgamesch. Den anderen Namen hatte er selbst schon lange vergessen, seinen Geburtsnamen, aber als sie ihn nun aussprach, barst ein Damm in seiner Seele und die Erinnerung flutete über ihn hinweg. Was war dies für Zauberei, daß er sich auf einmal wieder dem Mädchen Inanna gegenüber sah?

»Ich bin Ninpa, die Herrin des Zepters«, murmelte sie. »Ich bin Ninmenna, die Herrin der Krone.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Und als er sie berührte, veränderte sie sich. Sie war nun älter, ihr Leib voller. Die dunklen Augen glitzerten buhldirnenhaft wissend. Die dunkle Haut schimmerte ölig. »Komm«, flüsterte sie. »Ich bin Inanna. Du mußt mit mir gehen. Du bist der einzige, der uns retten kann.«