Vor ihm ein dunkler unterirdischer Gang — ein Surren in seinen Ohren wie von tausend Wespen, die um sein Haupt schwirren — vor seinen Augen ein helles purpurnes Licht, das aufflammt —, ein gewaltiges Brüllen, als hätte Enlil, der Herr der Stürme, alle seine Winde auf die Nachwelt losgelassen…
Und dann ein beißender Schmerz in seinem Unterschenkel. Der Hund Ajax hatte seine Fänge tief in sein Bein vergraben! Verblüfft sah er zu dem Hund hinab.
»Vorsicht, Gilgamesch!« bellte Ajax. »Das Verhexung!«
»Wie? Was?«
Die Frau hielt ihn an der Hand fest. Hitze floß zu ihm herüber, überwältigend wie aus einem Backofen. Und schon wieder veränderte sie sich: Nun trug sie das Gesicht seiner Mutter. Und gleich darauf war sie die rundbrüstige Hierodoule Abisimti, die ihm im Tempel seine erste Lektion in den Liebeskünsten erteilt hatte. Und dann war sie wieder die kindhafte Inanna. Und dann wieder die reife Frau. Und dann etwas mit hundert Köpfen und tausend Augen und suchte ihn in die tiefen Suhlgruben der Nachwelt hinabzuzerren, in die gähnende Schwärze tief unter dem glutlodernden Kern des Vulkans Vesuv.
»Ich bin Ereshkigal aus der Hölle«, flüsterte sie, »und ich will deine bräutliche Geliebte sein.«
Und hinab und hinunter — tiefer über eine Lichterleiter — ringsum blendend weiße Helligkeit, und im Wind wehte aus der Grube ein leuchtend kupferroter Mantel empor und drunten tanzten Dämonen. Auf allen Seiten — Löwen. Aus großer Höhe ergoß sich aus zwei umgedrehten Weinschalen ein goldener Wein, und er war dick und feurig und brannte ihn auf der Haut, wo ihn die Tropfen berührten.
Er hörte, wie sein Hund wütend heulte. Er fühlte den schrecklichen Sog aus der schwarzen Tiefe.
»Es ist Verhexung, Gilgamesch«, sagte sein Hund Ajax noch einmal. »Wehr dich — kämpfe — ich hole Hilfe.«
Der Hund rannte mit einem gräßlichen Wolfsgeheul fort.
Gilgamesch wich nicht von der Stelle. Verwirrt schüttelte er den Kopf, langsam, benommen wie ein verwundeter Stier. Wäre doch nur Enkidu bei ihm! Enkidu würde ihn von dem Abgrund zurückreißen, genau wie vor langer Zeit Gilgamesch versucht hatte, Enkidu aus diesem Stollen voller alter vertrockneter Gebeine herauszuholen, der ins Totenland führte. Ihm war es mißlungen, damals, und Enkidu war zugrunde gegangen und unter die Erde gefahren. Aber mittlerweile waren sie ja beide ein Stückchen älter geworden, und auch klüger, sie wußten, wie sie mit den Dämonen umgehen mußten, die einen hier von allen Seiten umgaben…
Enkidu! Ach, Enkidu!
»Du hättest nicht allein in diese Straße kommen sollen«, sagte eine andere Stimme. »Es könnte hier gefährlich werden.«
Ja, Enkidu! Endlich! Der Hund Ajax war zurückgekehrt und hatte Enkidu an Gilgameschs Seite geholt. Gilgamesch fühlte, wie seiner Seele Flügel wuchsen. Er war gerettet! War gerettet!
Mit getrübtem Blick erkannte er die mächtige Gestalt seines Freundes: die massiven Muskeln, den dichten dunklen Haarpelz, die dunkel brennenden Augen. Enkidu rang nun mit der Ereshkigal-Inanna. Er zerrte ihre kalten Finger von Gilgameschs Handgelenk weg und stieß die Höllengöttin zurück zu ihrer Grube. Gilgamesch zitterte. Er konnte sich nicht rühren. Er war unfähig, sich selbst zu helfen. In allen seinen Jahren in der Nachwelt war er keiner vergleichbaren Gefahr begegnet, war er noch nie so tief in die Gewalt der Dunkelwesen aus der Welt des Unsichtbaren geraten. Doch Enkidu war bei ihm — Enkidu würde ihn erretten.
Und Enkidu befreite ihn. Ja. Die furchtbare Kälte des Abgrunds, die ihn erfaßt hatte, begann zu weichen. Die blendende Höllenhelle begann zu schwinden. Die Tempel und die Straßen und die Sonne Uruks waren nicht länger vor seinen Augen. Gilgamesch trat einen Schritt zurück. Er blinzelte. Ihn fröstelte. Sein Herz pochte schwer und in dumpfen Schlägen, fast wie das Schlagen jener umgekehrt tönenden Glocke. Tränen strömten ihm über die Wangen. Er blickte suchend nach seinem Freund.
»Enkidu?«
Durch die tränengetrübten Augen erblickte er die zottige Gestalt. Enkidu? Nein. Das war nicht Enkidu. Das dichte Fell war wie das eines Tieres. Rötlich, dicht und rauh, und es schimmerte keine Haut hindurch. Und das Gesicht — das zurückweichende Kinn und diese starken tiefhängenden Brauenwülste über den Augen — nein, das war ganz und gar nicht Enkidu, das war viel eher schon dieser Haarmensch, Simons weiser Mann. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht ein ganz anderer aus diesem Volk — es war so schwer, diese Behaarten voneinander zu unterscheiden.
Aber die Häßlichkeit des Haarigen Mannes allein wirkte bereits tröstlich. Die massige untersetzte Gestalt. Dieses Geschöpf, das gelebt hatte, als selbst die Götter noch jung waren, das lange vor der Großen Flut über die Erde geschritten war, das fünfzigtausend oder hunderttausend oder hundertmal hunderttausend Jahre, bevor Gilgamesch von Uruk hier erschienen war, in der Nachwelt gelebt hatte. Uraltes Wissen floß tief verborgen in ihm. Daneben fühlte Gilgamesch sich beinahe wieder wie ein Kind.
»Komm mit«, sagte der Behaarte mit gutturaler rauher Stimme. »Hier hinein. Hier bist du sicher. Hier bist du beschützt.«
9
Es hätte recht gut eine Art Lagerschuppen sein können. Ein langer großer dunkler Raum, weißvergipste Wände, hoch oben eine gewölbte Holzdecke. Ein einzelner Lichtkegel von oben beleuchtete das komplizierte Sparrenwerk und den von Sägemehl bedeckten Boden, die Reihen nackter Holztische und die gebückten düsteren Gestalten, die auf einfachen Bänken hinter den Tischen hockten. Sie blickten starr vor sich hin, und alle schrien sie laut, jeder mitten in einem ganz persönlichen litaneihaften Singsang gefangen, jeder stur gegen alle die anderen Stimmen ansingend.
»Ich bin Wulfgeat. Bei chronischen Störungen des Kopfes oder der Ohren oder der Zähne durch Fäulnis oder Dickfluß entferne man, was da Pein macht, man brühe Kerbel in Wasser und gebe das zu trinken, und das wird die üblen Säfte entweder durch Mund oder Nase herausziehen.«
»Ich bin Aethelbald. Sucht im Magen junger Schwalben nach etlichen kleinen Steinchen und achtet darauf, daß sie weder mit Erde noch mit Wasser in Berührung kommen und nicht mit anderen Steinen; suchet euch deren dreie aus; die legt ihr dem Mann auf, über dem ihr waltet, dem, der der Hilfe bedarf, und er wird bald genesen sein.«
»Ich bin Eadfrith. Wir haben hier Raute, Hysop, Fenchel, Sennep, Elecampanum, Südholz, Celandinum, Rettich, Kumim, Zwiebel, Lupinum, Kerbel, Flor-do-Liszt, Flachs, Rosemarin, Saturai, Liebstöckel, Persilium, Olusatrum, Krüppelwacholder.«
Verwundert und etwas bestürzt fragte Gilgamesch: »Ja, was sind denn das für Typen — und was brabbeln die da?«
»…und wiederum, du sollst die üblen verdrängten Säfte durch Speichelfluß und Erbrechen entfernen. Mische Pfeffer mit Mastix und gib es deinem Kranken, auf daß er es kaue, und bringe ihn so zum Gurgeln und Ausfluß aus dem Rachen…«
»…sind nützlich bei Hauptweh und bei der Augenarbeit, und bei Anfechtungen durch den Bösen Feind, und gegen nächtliche Besuche von Spukgespenstern, und gegen den Alptraum, für Verknotung und für Anziehung und bei Verzauberung durch bösen Sang. Es sollen große Nestlinge sein, bei denen du sie suchen sollst. Und wenn ein Mensch an der Hälfte seines Hauptes Weh leidet, so zerstoße Raute gründlich, setze sie an in starkem Essig…«
Der Haarmensch sagte: »Das sind Verkäufer von Arzneien und Zaubermitteln, und hier ist der Basar, wo man in Brasil diese Dinge verkauft.«
»…und Mastix, Pfeffer, Galbanum, Skammonium, Gutta Ammoniaka, Zimmet, Zinnober, Aloe, Bimsstein, Quecksilber, Schwefelblüte, Myrrhe, Weihrauch, Petroleum, Ingwer…«