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Aber das war vor langer Zeit gewesen, in seinem ersten Leben. Und es war das erstemal, daß er einen flüchtigen Eindruck von den Welten gewann, die unterhalb der Welt lagen, wo unsichtbare Flügel flattern und der Widerhall rauhen Gelächters durch stauberfüllte Gänge schallt. An jenem Tage hatte der junge Gilgamesch erfahren, daß die Welt mehr war, als die ihm vertraute Oberfläche ihm sagen wollte, daß es Schichten um Schichten von Rätselhaftigkeit gibt, die weitab außerhalb der Erkenntnis gewöhnlicher Sterblicher liegt. Und während der Zeit seiner Königsherrschaft war er wieder und immer wieder in diese tiefere, untere Welt hinabgestiegen.

Und nun und hier in der Nachwelt, in der gar nichts vertraut war und alles voller Rätsel, stieg Gilgamesch wieder einmal in die Welt unter der Welt hinab.

Schon vor langem hatte er herausgefunden, daß es auch hier eine unterirdische Region gab, ein unermeßlich weites Land voller Gänge und Stollen und alles höchst verwirrend. In den frühen Jahren seines Totenlebens war er stöbernd durch diese Niederwelt gezogen, denn da hielt ihn noch diese unersättliche Neugierde im Griff, die ihn einst bis an die Grenzen der Erde getrieben hatte, aber sein Interesse an derlei Erkundungen war rasch erloschen, je stärker sein zielloses und untätiges Nachweltleben von ihm Besitz ergriff, und so war dies nun seit anderthalb Äonen oder mehr das erstemal, daß er wieder in die unterirdischen Gänge hinabstieg.

Es gab Meinungen, daß durch diese Stollen ein Weg aus der Nachwelt führe. Gilgamesch bezweifelte das. Er teilte die faszinierte Besessenheit Enkidus und zahlreicher anderer nicht, diesen Traum, den sie so lange gehegt hatten, sie könnten da einen Weg zurück ins Land der Lebenden finden. Für ihn war das ohne Bedeutung; er war sicher, soweit man hier irgendeiner Sache sicher sein konnte, daß für die hier Hausenden die Nachwelt endgültig und ewig sein mußte. Er wußte von einigen, die in die Grüfte hinabgestiegen und nie zurückgekehrt waren. Aber das war für ihn kein Beweis, daß sie einen Weg nach draußen gefunden hätten, sondern er vermutete eher, daß sie durch eine zwiefache Unterwelt irrten, vielleicht gar das Haus des Staubes und der Finsternis selbst, jenen Schreckensort, von dem die Priester in Uruk erzählten, wo die Gestorbenen wie Vögel gekleidet umherirrten und traurig ihr Gefieder durch den Staub schleppen müßten. Es reizte Gilgamesch gar nicht, in dieses ewig nächtliche Land ohne Hoffnung zu gelangen.

Doch jetzt — um zu erfahren, wohin sein Enkidu diesmal entschwunden war…

Und hinab und hinunter. Die Fackel des Herodes zuckte und spuckte. Die Luft war dick und bedrückend. Sie schmeckte brandig. Im trüben Schein erkannte Gilgamesch an den Stollenwänden gräßliche Skulpturen, von denen ihm die Augen zu pulsieren und zu beben begannen. Er mußte den Blick von diesen Scheußlichkeiten abwenden.

Die Gänge wanden, bogen sich, manchmal fast gerade abwärts, dann über schräge steile Rampen. Die Stollen durchkreuzten einander, schienen ineinander zu münden, trennten sich erneut, so daß es nahezu unmöglich war zu erkennen, welchen Weg sie ursprünglich eingeschlagen hatten. Doch Herodes schien sich auszukennen, obwohl auch er hin und wieder sich verwirrt und ratsuchend an den Haarigen Mann wandte, der nur grob mit einem überlangen dolchartigen Fingernagel in diese oder jene Richtung wies. Keiner sprach. Sie trafen auf kaum jemand sonst in den Stollen. Ab und zu hallte Dämonenlärm aus der Ferne zu ihnen: Keckern, Kreischen, Zischen, Gestöhn.

Und dann Musik, ein schreckliches barbarisches Trommeln und die schneidenden Töne von Flöten oder Pfeifen schrillten darüber.

»Das Haus Calandolas liegt gleich dort hinten«, sagte Herodes.

»Was muß ich beim Eintreten tun?« fragte Gilgamesch.

»Steh du aufrecht. Zeig keine Furcht. Blick ihm in die Augen.«

Gilgamesch lachte. »Das wird mir nicht schwerfallen.«

»Warte es ab«, sagte Herodes. »Und sag mir das gleiche dann noch einmal!«

Der Gang bog plötzlich scharf nach rechts ab, und Gilgamesch blickte in einen langen, engen Seitengang, in dem nur ein schwacher flimmernder Lichtschein zu erkennen war. Die einzige Öffnung dorthin schien ein Loch zu sein, das kaum groß genug war für einen Zwerg. »Hier durch«, sagte Herodes und kletterte durch die Öffnung. Gilgamesch mußte auf den Knien sich erst mit der einen, dann mit der anderen Schulter hindurchzwängen. Der Behaarte folgte ihm.

Abgesehen von dem einen Lichtpunkt in der Öffnung, herrschte dahinter absolute finsterste Nachtschwärze, so dicht und schwer, daß sie wie Fäuste auf die Augen schlug. Gilgamesch war von der tiefen Schwärze wie betäubt. Zum erstenmal bekam er nun ein Gefühl dafür, was es bedeuten mußte, blind zu sein.

»Hier herüber«, sagte Herodes munter. »Folgt mir!«

Und was war, wenn vor ihnen auf dem Weg eine bodenlose Fallgrube gähnte, voller kochenden Öls oder gewaltiger Schlangen auf dem Grund? Und wenn scharfe Sicheln von den Wänden des Stollens herausstießen, um Vorbeikommende zu zerstückeln? Wenn an Stolperstricken Schwerter hingen, bereit niederzusausen und zu zersäbeln? Aber er sah nichts. Er war ganz und gar auf blindes gläubiges Vertrauen angewiesen.

Aber in dieser erzwungenen Blindheit erwachten andere Sinne…

Er hörte das Rauschen des schweren römischen Gewandes, das Herodes trug, in der stickigen Luft, das Patschen seiner Sandalen auf dem Boden. Die Haut auf der Stirn und den Wangen spürten den Luftzug, den die Bewegungen Herodes’ bewirkten. Wie ein nächtlicher Jäger bei der Verfolgung seiner Beute las Gilgamesch diese und weitere Signale und folgte furchtlos und ohne Zaudern.

Der Gang verengte sich, bis er wie eine schweißfeuchte Faust sich von allen Seiten heranpreßte. Dann weitete sich der Gang wieder und wurde zu einer weiten hallenden Höhle. Und er verengte sich erneut. Er fiel abwärts, stieg wieder an, wand sich hierhin und dorthin. Und dann entließ er sie plötzlich in einen gewaltigen von Schatten erfüllten Raum, der unregelmäßig von qualmenden Fackeln in Messinghaltern beleuchtet wurde, ein Raum voller Winkel und Ecken, wo Wände und die Decke bedrückend und verwirrend ineinander übergingen. Und in der Raumesmitte thronte ein Mann von derart beeindruckender Würde und Autorität, daß er nur der Großmagier Imbe Calandola in Person sein konnte, von dem man in der Nachwelt munkelte, er sei der Erzfeind, der Herr Alles Bösen, der Wahre Luzifer, der Beherrscher der Finsternis.

Gilgamesch erkannte sogleich, daß dies nicht so war. Er sah auf einen Blick, daß dieser Calandola weder göttlich war, noch ein Dämon oder Teufel, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, wie er selbst, jedenfalls als er noch gelebt hatte. Doch im gleichen Augenblick erkannte er auch, daß der Mann, vor dem er hier stand, etwas höchst Außergewöhnliches war. Daß er, obwohl vielleicht ein Sterblicher, sehr wohl Götterblut in sich tragen mochte.

Genau wie Gilgamesch selbst, der seit seinen Kindertagen wußte, daß er zu zwei Teilen göttlich und nur zu einem Teil sterblich sei, woher seine gewaltige Statur und seine tiefe Erkenntnis rührten. Obwohl ihn auch dies nicht davor bewahrt hatte, sterben zu müssen und seit so langen Jahren hier in der Nachwelt zu hausen.