»Haltet inne und erweist eure Ehrerbietung!« dröhnte eine dunkle Stimme aus den Schatten hinter dem Thron. »Werft euch nieder, Fremdlinge, denn ihr steht vor dem großen Jaqqa, dem Imbe Calandola!«
Gilgamesch schaute wie erstarrt hin und spürte etwas, das einem Gefühl von Ehrfurcht nahekam, wie er es seit fünftausend Jahren nicht mehr gekannt hatte.
Calandola war so schwarz wie Calandolas Stollengänge: eine abgrundtiefe absolute Schwärze, das Schwarz einer sonnenlosen Leere, so tief, daß alles umgebende Licht hineingesogen zu werden schien. In seinem vorherigen Leben waren schwarze Menschen Gilgamesch nicht unbekannt gewesen. Auf seinen Wanderzügen zu fernen Orten hatte er die plattnasigen, dicklippigen kraushaarigen Matrosen aus dem Königreich — Punt gesehen, die aus einem Land kamen, in dem die Luft war wie Feuer, so daß die Haut der dort Lebenden verbrannte. Und aus dem weit entfernten Meluhha kamen andere schwarzhäutige Leute, mit schmalen Nasen und Lippen und langem glatten Haar, so dunkel, daß es beinahe blau war. Und hier in der Nachwelt selbst war er vielen begegnet, die auf die eine oder andere Art schwarz waren und aus Ländern kamen, deren Namen ihm nichts sagten — Nigeria, Äthiopien, Nubien, Mali, Quiloa, Indien, Socotra, Sansibar und viele andere Namen mehr. Vielleicht gab es ja in jedem Teil der früheren Welt schwarzhäutige Menschen und gelbe und rote und braune und — was wußte denn er, Gilgamesch, schon — vielleicht solche mit blauer oder grüner Haut oder mit gescheckter. Aber in beiden Welten hatte er noch nie einen wie Calandola gesehen.
Seine Haut hatte die Schwärze der Leute aus Punt, doch seine Nase war gerade, die Lippen schmal und scharf geschnitten, ähnlich wie die Gesichtszüge der Männer aus Meluhha und Indien, obwohl diese Leute klein waren, dieser Galandola hingegen war gewaltig, ein Riese, der beinahe an Gilgameschs Größe heranreichte. Seine Haare waren dicht, lang und gelockt, und Meeresmuscheln waren dareingeflochten, und um den Hals trug er einen Kragen aus großen Muscheln einer anderen Art, die wie gezwirbelte Türmchen hervorragten. In der Nase trug er eine blitzende Kupfernadel, so lang wie der kleine Finger eines Mannes, und zwei andere ähnliche Kupferstücke baumelten von seinen Ohren. Um die Lenden geschlungen war ein grell-scharlachnes Tuch, sonst war sein wuchtiger Körper nackt. Seine Flanken waren von roten und weißen Malereien bedeckt, und wo er nicht bemalt war, war die Haut zerschnitten und gekerbt oder sonstwie zu verblüffenden vortretenden Wülsten und Narben verzerrt, zu monströsen Schmuckverzierungen in der Gestalt von Blüten und Knoten und Linien. Auch war die Haut stark geölt und spiegelte den Schein der Fackeln wider.
Und diese Augen!
Ihr Götter! Enlil und Enki und Inanna — was waren das für Augen!
Schwarz waren sie und glänzend und tief. Unergründliche schwarze Teiche, umgeben von strahlendem Weiß. Gilgamesch erkannte es sofort, es waren die Augen eines wahren Königs. Es waren Augen, die ergreifen und bannen, die peitschen und niederschmettern konnten. Augen, die verzaubern konnten, wenn nötig, oder töten.
Wer war dieser Mann? Wo hatte er geherrscht, als er lebte? Weshalb hauste er jetzt in dieser Höhle in den Abgründen der Nachwelt unterhalb der Insel Brasil?
Galandola erhob sich. Trat ein paar Stufen vom Thron herab und ein paar Schritte auf Gilgamesch zu. Ein merkwürdiger dunkler Geruch umgab ihn, ein säuerlicher Gestank, von dem Gilgamesch vermutete, daß er von dem Öl ausgehe, das den Körper so glänzen ließ. Er bewegte sich mit höchster Bestimmtheit, gelassen, gemessen, sicher. Nun wurde sichtbar, daß Calandola um eine halbe Haupteslänge kleiner war als Gilgamesch. Aber nur sehr wenige Männer waren so groß wie Gilgamesch. Den Eindruck massiver Größe verdankte er dem mächtigen Nacken, den enorm breiten Schultern und der Wucht seiner Oberarme, die so wuchtig waren wie Schenkel.
Er nickte dem Haarmenschen schnaubend zu und bedachte den unterwürfig zitternden Herodes mit einem Achselzucken. Und zu Gilgamesch sprach er mit einer gewaltigen dunklen Stimme, die wie aus einem noch weiter hinten liegenden Höhlengang zu dringen schien: »Weshalb bist du zu mir gekommen?«
»Ich habe Fragen, und sie sagten mir, du wissest Antwort.«
»Ich weiß, wo man die Antwort finden kann, ja. Gib mir deine Hand.«
Er streckte eine nach oben geöffnete Hand aus. Die Handfläche war rosa in der Innenseite und so groß, daß er damit leicht den Schädel eines Menschen hätte packen und wie einen Klumpen Lehm zerdrücken können. Nach kurzem Zögern legte Gilgamesch seine Hand flach auf die von Calandola und wartete. Dann schlossen sich die beiden äußeren mächtigen schwarzen Finger um Gilgameschs Hand und bohrten sich tief ein, und noch tiefer, bis Gilgamesch ein leichtes Schmerzgefühl verspürte und seine Handknochen sich gegeneinander zu bewegen begannen. Ein Härtetest? Nun gut. Es war zwar kindisch, aber er würde mitspielen. Er hielt dem schrecklichen Druck der zwei Finger stand, als streichelten ihn Federn, und als der Schmerz zu heftig wurde, verscheuchte er ihn wie eine lästige Fliege.
Auf der schimmernden Stirn von Calandola trat eine Ader hervor. Die seltsamen Muster der Schmuckornamente auf seiner Haut traten irgendwie noch stärker hervor und schienen zu beben und zu schwingen. Die beiden Finger preßten noch heftiger. Ohne mit der Wimper zu zucken, blickte Gilgamesch gleichmütig auf seine und Calandolas Hände, dann ließ er zwei seiner Finger um das Handgelenk des anderen gleiten und erwiderte den Druck mit ebenso großer Kraft.
Calandola reagierte darauf nicht. Es war, als verspürte er keinen Schmerz, oder aber er wußte — wie Gilgamesch —, wie man Schmerz als unwichtige, unwürdige Nebensächlichkeit aus dem Bewußtsein verbannt.
Während sie so aneinander geklammert standen und sich die Finger in die Hände gruben, sagte Calandola: »Du bist zu groß für einen Portugaller und zu dunkelhäutig für einen Ingleser. Aber nicht dunkel genug, um Afrikaner zu sein.«
»Nein. Ich bin weder das eine noch das andere.«
»Was bist du dann also?«
Gilgamesch erhöhte den Fingerdruck. Aber Calandola ließ nicht erkennen, daß es ihn schmerzte. Wie es schien, waren sie beide nicht fähig, einander durch Schmerz zu überwinden.
»Als ich am anderen Ufer lebte«, sagte Gilgamesch, »in dem Land, das als das Land zwischen den Zwei Strömen bekannt war, nannten wir es Sumer.«
»In Afrika?«
»Nein, nicht Afrika.« Hin und wieder hatte Gilgamesch Landkarten gesehen. Er hegte geringes Vertrauen zu ihnen, aber andere Menschen richteten sich anscheinend danach, und auf diesen Karten war Afrika der Name des großen buckeligen Landes weit südlich von seinem Land, und die Luft dort war wie Feuer. »Einige nannten mein Land Mesopotamien.«
»Ich weiß nichts von einer solchen Gegend.«
»Sehr wenige tun das heutzutage. Doch einst war dort der Mittelpunkt der Welt.«
»Zweifellos«, entgegnete Calandola unbeeindruckt. Er ließ Gilgameschs Hand wie beiläufig los, keineswegs als Eingeständnis einer Niederlage, sondern anscheinend nur, als habe ihm irgendeine Prüfung die erwünschten Ergebnisse gebracht. »Deine beiden Flüsse, welche waren das?«
»Der kürzere hieß Euphrates, so nannten ihn manche später. Der andere Tigris. Bei uns hießen sie Buranunu und Idigna.«
Calandola nickte erhaben. Es war deutlich, daß diese bedeutenden Namen für ihn nichts weiter waren als Geräusche. Er schien ganz in irgendwelche geheimen Berechnungen versunken.
»Bringt Wein!« rief er plötzlich mit einer Handbewegung zu jemandem im Hintergrund der Höhle.
Gilgamesch erkannte, daß im Dunkel hinter Calandola ein beträchtlicher Hofstaat wartete: ein halbes Dutzend schwarzer Männer, die fast so massig waren wie ihr Herr, und etwa ein Dutzend entsprechender Weiber, allesamt mit kaum mehr als mit Perlen und Muscheln und ihrer ölglänzenden dunklen Haut bekleidet. Einer kam nun mit einer hölzernen Schüssel nach vorn, die randvoll war von irgendeinem dicken süßduftenden Wein. Calandola tauchte die Fingerspitzen hinein und beträufelte damit Gilgameschs Haupt, als wolle er ihn salben, und rieb ihm dann den Wein fest in die Haut des Schädels, wobei er langsam in einer unbekannten Zunge etwas murmelte. Gilgamesch unterzog sich widerstandslos diesem Ritual. Danach bot ihm der schwarze Riese die Schale dar. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er nun seinerseits Calandola das Haupt salben müsse, doch nein, er sollte einfach nur daraus trinken. Er nippte, fand das Getränk schwer und ekelhaft süß. Calandola ließ ihn nicht aus den Augen. Und nach kurzem Zögern griff Gilgamesch erneut nach der Schüssel und trank, diesmal einen großen Zug.