Calandola warf den Kopf zurück und lachte. Sein Mund war riesig, ein großes weltverschlingendes Loch mit gewaltigen weißen Hauerzähnen. Vier von ihnen fehlten, zwei oben und zwei unten, so symmetrisch waren die Lücken, daß Gilgamesch es für wahrscheinlich hielt, daß sie absichtlich entfernt worden waren, vielleicht aus Eitelkeit oder für einen dunklen Ritualzauber. Und als das Lachen ihres Herrn die Männer und Weiber seines Volkes gleichfalls zum Lachen ermunterte, sah Gilgamesch, daß auch ihnen allen in gleicher Weise zwei obere und zwei untere Zähne fehlten.
»Du trinkst wie ein König«, sagte Calandola. »Hast du einen Namen?«
»Ich bin der Sumerer Gilgamesch, der König war in Uruk.«
»Aha. Ich bin Calandola-der-Jaqqa, der König war der Welt.« Er klatschte in die Hände. »Öl für den König Gilgamesch!« dröhnte er.
Zwei der schwarzen Weiber kamen nach vorn und schleppten einen hölzernen Bottich heran, der ein dunkles schmieriges Fett enthielt. Calandola tunkte die Pranken hinein, hob einen großen Klumpen heraus und klatschte ihn Gilgamesch auf die nackte Brust; dann verrieb er die Salbe mit erstaunlich sanften Fingern über die Brust und den Rücken, die Schultern und den Nacken und das Rückgrat, bis der Sumerer ebenso schimmerte wie alle diese Jaqqa. Die Salbe verströmte den selben scharfen säuerlichen Geruch wie Clandola selbst. Gilgamesch fühlte, wie sie tief in seine Haut eindrang.
Als die Salbung beendet war, schloß Calandola Gilgamesch kurz und heftig in die Arme. Gilgamesch fühlte die bullenhafte Kraft dieses Berges von einem Mann.
Dann gab der Schwarze ihn frei und trat von ihm zurück. »Wenn du zurückkehrst, König Gilgamesch, werden wir vielleicht die Antworten auf deine Fragen suchen können.«
Calandola ließ seine Augen funkeln, grinste ihm zahnlückig zu, wandte sich in eindeutig verabschiedender Weise um und stapfte in das Schattendunkel, und sein Hofstaat scharte sich hinter ihm, so daß Gilgamesch ihn nicht länger sehen konnte.
Lange stand Gilgamesch da und starrte vor sich hin.
Er spürte den schweren süßen Wein in seinem Leib, und er fühlte die Glätte des Salböls, mit dem Calandola ihn bestrichen hatte. Dann blickte er umher, was mit seinen Gefährten geschehen sein mochte. Der Behaarte Mann lehnte an der Wand, die Arme über der zottigen Brust verschlungen, die schmalen Lippen in heftiger Mißbilligung zusammengepreßt. Und Herodes, der lag als verschwitztes Häuflein auf den Knien und stierte mit hängenden Armen irgendwohin ins Leere. Er wirkte benommen. Es war fast der gleiche Ausdruck wie neulich, als er aus dem Fenster in Gilgameschs Suite im Palast auf die wütenden Flammenkaskaden bei dem Ausbruch des Vesuv gestarrt hatte.
Gilgamesch stupste ihn mit der großen Zehe an.
»Komm«, sagte er. »Steh auf! Ich glaube, wir sollen uns jetzt entfernen.«
Herodes nickte dumpf. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Er hat dir den Wein gereicht!« murmelte er. »Er hat dich mit dem Öl gesalbt! Wie außergewöhnlich! Wie erstaunlich! Bei deiner ersten Audienz — der Wein — das Öl!«
»Ist das so ungewöhnlich?« fragte Gilgamesch.
Herodes bebte vor Erregung. »Die Macht dieses Mannes! Seine schrecklich beeindruckende Größe! Ich kann es einfach nicht fassen, daß er dir gleich beim erstenmal den Wein gereicht hat. Und die Salbung! Es war, wie wenn er dich angeschaut und auf den ersten Blick richtig erkannt und eingeschätzt hätte, wie wenn er dann zu sich sagte: Ja, der Mann da und ich, wir sind vom selben Geist. Himmel, wie ich dich beneide! So einfach gleich von Calandola in die Arme geschlossen zu werden…« Er wandte sich zu Gilgamesch um, und dieser erblickte in dem Gesicht von Herodes einen Ausdruck krankhaften Hingerissenseins.
Auf seltsame Weise war auch er selbst von Calandola stark beeindruckt. Aber doch nicht so! Nicht auf diese Art!
Aus einem Schattenwinkel schnaubte der Haarmensch verächtlich: »Und das nach einer halben Million Jahren der Evolution! Ihr legt euch zu Wilden ins Bett, und es dauert nicht lang, dann seid ihr selber Wilde.«
»Und was bist denn du?« fauchte Herodes, der in einem plötzlichen Anfall von Wut herumfuhr. »Du Tier! Du Affe! Du wandelnder Bettvorleger! Du halbmenschliches Ding! Du wickelst dir eine Toga um und glaubst, damit bist du ein Römer. Aber ich weiß, was du in Wahrheit bist!«
»Kommt!« sagte Gilgamesch.
»Lange bevor es Adam gab«, fauchte Herodes weiter auf den Behaarten los, »seid ihr nackend durch die Wälder gerannt, habt in Löchern in der Erde gehaust und habt weder Götter gekannt noch eine Zivilisation, noch hattet ihr eine Sprache, und ihr habt Würmer gefressen und Wurzeln und Blätter. Rede du mir von Wilden! Wir wissen, was ihr wart! Wilde ist ein zu höfliches Wort. Laß mich dir sagen, du Ding, du Irgendwas: Ihr Leute seid nur auf Grund einer technischen Formalität hier. Die Nachwelt ist den Menschen vorbehalten. Und wenn wir uns ein paar von euch grunzenden Affenmenschen hier noch leisten, schön, das heißt nichts weiter, als daß da jemand die Vorschriften ein bißchen großzügig auslegt. Vielleicht gaben sich gewisse blauäugige Idealisten unter den Später Toten blödsinnigerweise eingeredet, ihr wäret unsere Urvorfahren, aber wir beide wissen, daß das nicht möglich sein kann. Und wenn ihr dann noch anfangt, euch aufzuspielen und so zu tun, als wäret ihr wirklich menschliche Wesen…«
»Das reicht, Herodes!« sagte Gilgamesch etwas strenger. »Hoch. Und raus! Bring mich in die Oberstadt zurück.« Und zu dem Haarigen Mann sagte er entschuldigend: »Er ist einfach bloß etwas überdreht. Ich vermute, die Luft hier unten…«
»Er möchte seine Seele verkaufen«, sagte der Behaarte. »Aber sein Problem ist, daß er nicht weiß, wo er die finden könnte. Aber ich bin nicht gekränkt. Ich bin es ebenso gewohnt, daß man mich einen Affen heißt, wie du, den Leuten zu erklären, wo das Land deiner Herkunft einmal war. Wenn er es unbedingt nötig hat, sich selbst für die absolute Krone der Schöpfung zu halten, was bedeutet das schon für mich? Er weiß nichts über das Leben, das wir führten, als seine und eure Götter noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen waren, euch zu erschaffen.« Der Behaarte kratzte sich lachend an der pelzigen Brust. »Frag ihn, später, was das für ein Öl war, mit dem dich der schwarze Zauberer gesalbt hat. Nicht jetzt. Aber frag ihn danach.«
10
»Menschenfett?« sagte Gilgamesch und fühlte, wie seine Haut sich zusammenzog.
Herodes nickte hastig eine Bestätigung. Sie befanden sich wieder in Simons Palast und standen beim Brunnen im Hof.
»Aber woher bekommt er das denn?«
»Es stehen genügend Leichen zur Verfügung. Das Leben in der Nachwelt ist nicht nur billig, weißt du. Jeder kann sich bedienen, und wer sagt da schon nein dazu?«
Das war Gilgamesch nur allzu bekannt. In dieser Welt herrschten keine Götter, und Gesetz und Ordnung waren reine Glückssache und von örtlicher Willkür bestimmt. Überall streiften marodierende Truppen umher und unabhängige Banden und freche Brutalos und Leute, die willkürlich töteten; und der Tod war etwas Alltägliches. Aber der Tod hier war nur eine ärgerliche Störung, eine unangenehme, doch gewöhnlich nur kurze Unterbrechung in dem unendlichen Weiterlaufen des Daseins in der Nachwelt. Es gab Leute, die in einer einzigen Woche dreimal gestorben und jedesmal wieder — anscheinend unverändert — wieder aufgetaucht waren. Unbekannte und wahrscheinlich unerforschliche Kräfte irgendwo hinter den Kulissen setzten deinen Körper aus den Stückchen und Fetzchen, die man finden konnte, wieder zusammen, stopften die Seele wieder hinein und entließen die Person dann wieder ins Weiterleben. Nicht daß er selbst so etwas schon erfahren hätte, soweit er sich erinnerte, war er in seinen Tausenden Jahren nur ein einziges Mal gestorben, und dies zu der erwarteten Stunde, als seine ihm zugemessene Erdenspanne ihr vorbestimmtes Ende fand. Aber es war nur eine Frage des persönlichen Stolzes, sich in der Nachwelt nicht umbringen zu lassen. Enkidu hatte das einst über Gilgamesch gesagt, es ihm wütend wie eine Anklage ins Gesicht geschleudert, damals, als sie sich zerwarfen und stritten. »Zu stolz, um zu sterben — zu stolz, den Beschluß der Götter hinzunehmen…« Und Gilgamesch mußte sich eingestehen, daß dies die Wahrheit war. Weil er eben der war, der er war, war er beständig auf der Hut vor irgendwelchen Angriffen in dieser Nachwelt, und wenn er schon einmal angegriffen wurde, sorgte er dafür, daß seine Stärke oder seine List obsiegen mußten. Er konnte nicht gestatten, daß irgendein Mann sich damit brüsten konnte, den gewaltigen Gilgamesch niedergestreckt und erschlagen zu haben. Doch sollte es durch ein Mißgeschick dazu kommen, daß er erneut sterben würde, dann, das wußte er, würde es nicht für lange sein.