»Ach ja? Wirklich?«
»Zweifele nicht daran, Gilgamesch. Alles wird dir gesagt, nichts verheimlicht. Und alles Geheime wird aufgedeckt.«
Gilgamesch dachte darüber nach. Die Dunkelheit öffnen? Durch ein Erkenntnisritual? Ein halbnackter Wilder mit einem Stück Kupferblech in der Nase sollte ihm alle Geheimnisse offenbaren? Schön, schön. Vielleicht, vielleicht. Hier in der Nachwelt war nur eines sicher: Sie war ganz seltsam absolut anders. Was auf der Erde unsichtbar gewesen war, oder doch fast kaum sichtbar, wurde hier deutlich und handgreiflich. Auf der Erde erhaschte man zuweilen einen flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel auf Dämonen; hier hockten sie sich zum Würfelspiel zu einem an den Tisch, oder sie lagen vor dem Kaminfeuer in den Kneipen und sangen seltsame Lieder. Zauberei fand man überall. Gilgamesch sah keinen Grund, an den übernatürlichen Kräften dieses Calandola zu zweifeln. Und wenn er, um den Weg zu Enkidu zu finden, sich die Haut mit abscheulichem Fett beschmieren mußte, nun gut, dann war ihm auch der Preis nicht zu hoch. Kein Preis war dafür zu hoch.
Auf der anderen Seite des Hofes erschien nun Simon mit seinem Behaarten Mann. Er winkte.
»Gilgamesch! Wo hast du gesteckt?«
Der Sumerer reagierte nur mit einem Achselzucken.
»Aber du kommst doch zu dem Fest heute abend?« rief Simon herüber.
»Ein Fest?«
»Ja. Nach den Spielen! Weiber, Gilgamesch! Wein! Ströme von Wein! Vergiß es nicht!«
»Nein«, erwiderte Gilgamesch ohne Begeisterung.
»Natürlich nicht.« Ströme von Wein? Wein bedeutete ihm derzeit überhaupt nichts mehr. Und Weiber auch nicht. Schon lange nicht mehr.
Das Bild des Jaqqa Imbe Calandola tauchte in seinem Geist auf, wie ein geschwollener Koloß, der ihn überragte, und dann erblickte er bestürzt sich selbst, wie er gegen eine heftige Strömung anzuschwimmen versuchte, eine Flut nicht von Wein, sondern von Blut.
»Nimm das«, befahl Calandola. »Trink!«
Zum zweiten Mal und wieder geführt von dem aufgeregt-ängstlichen Herodes Agrippa, war Gilgamesch in die Stollengründe unterhalb von Brasil gestiegen. Zum zweiten Mal waren sie in die von Fackeln beleuchtete Höhlenkammer vorgedrungen, in der Imbe Calandola und seine Jaqqa-Gemeinde hausten. Und wieder hatte der schwarze Zaubererkönig Gilgamesch den süßlichen Wein dargeboten und ihm den Leib mit diesem Öl von so scheußlicher Herkunft gesalbt.
Und nun sollte ein weiteres, noch dunkleres Ritual beginnen. Es waren mehr Menschen anwesend als beim erstenmal. Anscheinend auch mehr Jaqqa, eine ganze dunkle Schar, dreißig, vierzig, vielleicht noch mehr, stelzten wie langbeinige Kobolde durch die rauchige Düsternis der Höhlenwinkel und vollzogen Dinge, die nicht einmal Gilgamesch mit seinen scharfen Augen erkennen konnte. Aber da waren auch acht, zehn oder zwölf Gestalten in der weißen Kleidung Brasils, Männer und Weiber, die mitten im Raum, die auf den Knien lagen wie Zeremonialdiener, wie Eingeweihte. Manche waren mit schwarzen Stoffbinden maskiert, andere trugen das Gesicht frei. Genau wie Herodes wirkten sie unsicher, die bleichen Gesichter waren schweißbedeckt, die Augen zuckten unablässig her und hin. Während des Trank- und Salbungs-Rituals sahen sie oft höchst gespannt zu Gilgamesch her, manchmal auch mit einem merkwürdigen Ausdruck wie von Abscheu und Furcht, oder vielleicht auch von Mitleid und Bekümmerung; er vermochte es nicht zu sagen. Es hätte sogar Neid sein können. Neid? Weshalb sollte jemand ihn beneiden? Er kam sich vor wie einer, der gleich einer unbekannten Gottheit zum Opfer dargebracht werden soll.
Aus dem Hintergrund der Kammer drang Musik. Die Jaqqa bliesen auf Pfeifen, die ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich gaben, und hieben auf Trommeln ein, die aus der schuppigen Haut von Tierdämonen gefertigt waren, und sie schlugen auch mit den Fingern auf dünne Brettchen, die auf Holzstangen lagen. Vier der Weiber kamen tanzend durch den Raum heran, in wilden mächtigen hohen Sprüngen, die gesalbten Brüste schaukelten, die zahnlückigen Münder zu starren Grimassen aufgerissen. Calandola selbst hockte schimmernd und riesig auf einem dreibeinigen Schemel, der mit den geschnitzten Gesichtern von Dämonen verziert war, und schaukelte vor und zurück und röhrte vor Lust.
Dann erhob er sich und gab ein Zeichen, und zwei der brasilianisch gekleideten Diener, ein Mann und ein Weib, sprangen auf die Füße. Aus einem der Winkel der verschachtelten Höhle trug der Mann eine krummhalsige Flasche heran, und die Frau holte ein flaches quastenbesetztes rotes Kissen, auf dem eine breite flache seltsam geformte Schale ruhte.
Der Musiklärm steigerte sich zu hektischem Getöse. Für Gilgameschs Ohren klang es wie alle Musik hier nur wie ein ärgerliches Gelärme. Die einzige Musik, die er jemals gemocht hatte, war die zarte Flötenmusik und das sanfte leise Trommeln in Sumer gewesen, und beides hatte er seit fünftausend Jahren nicht mehr genießen dürfen. Aber diese Jaqqa-Musik war einfach ein unerträglicher Lärm: ein Gequäle und Getöse, das sich in dich stürzt und dich bis in den letzten Winkel in Besitz nimmt und dir die eigene Seele aus ihrem Gehäuse zu treiben droht.
»Dies ist der königliche Wein«, intonierte Calandola mit dunkel brummender Bärenstimme. »Er schenkt dir die Erste Öffnung, die Eröffnung, die vor der Erkenntnis kommt. Bist du bereit, König Gilgamesch?«
»Gib mir den Wein.«
»Zuerst dein Hund, dann du.«
»Der Hund?«
»Zuerst der Hund«, wiederholte Calandola.
»Na schön«, sagte Gilgamesch. Das alles war recht absurd für ihn; aber es war auch nicht verrückter als alles übrige. Der Hund? Ja, warum nicht der Hund? »Wenn der Hund es mag, so gebt ihm den königlichen Wein.«
Mit drei Fingern der linken Hand vollzog Calandola eine Befehlsgeste. Die Frau mit dem Kissen und der Schale kniete nieder, der Mann goß den Königswein aus dem krummhalsigen Gefäß.
Als die Schale gefüllt war, wandte sich die Frau Ajax zu. Der Hund stieß einen kehligen Laut aus, aber anscheinend nicht irgendwie in feindseliger Absicht. Er blickte zu Gilgamesch herauf, und seine Augen stellten unverkennbar eine Frage.
Achselzuckend sagte Gilgamesch: »Du sollst den Vortritt haben. So sagt man mir. Also, trink, Ajax, wenn du magst.«
Es wurde still. Ajax schlabberte gierig. Schwanzwedelnd gab er ein leises lustvolles Schnaufen von sich. Der Königswein schien ihm zu schmecken. Gilgamesch hatte noch nie einen Hund gesehen, der Wein mochte. Doch Ajax war ein Nachwelthund; und es gab keinen Grund, weshalb in der Nachwelt die Hunde keinen Wein trinken sollten, oder weshalb sie nicht durch die Luft fliegen oder sonst alle erdenklichen unnatürlichen Akte vollziehen sollten. Hier war doch nichts natürlich.
Dann gab Calandola erneut ein Zeichen, und die Frau nahm dem Hund Ajax die Schale fort. Der Hund bewegte sich nicht. Seine Augen wirkten seltsam starr und schienen zu glühen.
Nun griff Gilgamesch nach der Schale.
»Nein!« sagte Calandola. »Noch nicht. Zuerst dein an derer Hund.«
»Aber ich habe nur einen Hund.«
»Dieser da«, sagte der Jaqqafürst und wies mit der Fußspitze zu Herodes.
Der hebräische Fürst sah bestürzt aus. Er hatte neben den übrigen Akolythen auf den Knien gelegen; nun erhob er sich, wackelte ungläubig mit dem Kopf und schlug sich auf die Brust, als wollte er fragen: Ich? Wirklich ich? Calandola deutete erneut auf ihn und machte mit dem ausgestreckten Fuß eine verächtliche fegende Bewegung, um Herodes näher heran zu befehlen. Gilgamesch dachte schon, daß der kleine Mann zusammenbrechen würde, ehe er noch fünf Schritte getan hatte. Doch irgendwie hielt er sich auf den Beinen und näherte sich der Weinschalenträgerin. Sie hielt ihm das Kissen mit dem Trank entgegen. Herodes nahm die Schale mit beiden Händen, neigte den Kopf und vergrub ihn fast in der Schale und trank sie in heftigen schmatzenden Zügen leer. Dann schwankte er und schüttelte sich; die Schalenschenkin ergriff das Gefäß, bevor es ihm aus den Händen fiel; Herodes wich zurück, und in seinen Augen war nun der gleiche glasige Ausdruck wie vorher bei Ajax, dann fiel er wieder devot auf die Knie.