Gilgamesch wartete diesmal, ob es noch weitere ›Hunde‹ zu bedienen gäbe. Nein, endlich war es an ihm, den Königswein zu kosten.
Der Mann goß aus der krummhalsigen Karaffe ein. Die Frau brachte die Schale auf dem Kissen zu Gilgamesch.
»Nimm und trink«, sagte Calandola.
Gilgamesch hob die Schale mit beiden Händen. Das Gefäß war glatt und kühl wie Elfenbein feinster Art, doch die Unterseite fühlte sich irgendwie unregelmäßig an. Während er in den Trank schaute, ließ er die Finger um die Schale tasten und begriff, was er da in den Händen hielt: unzweifelhaft eine menschliche Schädeldecke, und die Knochen unterhalb der Augenhöhlen waren weggeschnitten. Na ja, denn also, dachte Gilgamesch. Hier trinkt man aus einem polierten Schädel. Wieso auch nicht? Er begann das Prinzip zu begreifen, das hinter dem Theater Calandolas steckte. Eine Schädeldecke eignet sich vorzüglich als Trinkschale. Warum denn auch nicht?
Der Wein war dunkel, nicht honigfarben wie beim ersten Mal, und hatte einen rötlichen Schimmer. Er trank vorsichtig. Die Flüssigkeit war überwältigend süß, so süß wie der süßeste Nektar, vielleicht sogar noch stärker. Sie lag merkwürdig auf der Zunge, ein schwerer dickflüssiger Wein. Er schluckte und trank einen zweiten Schluck, und plötzlich wußte er, woher die Süße und die rötliche Färbung kamen. Der königliche Wein des Imbe Calandola war mit Blut gemacht. Bei dieser Erkenntnis fürchtete er, sein Magen würde sich dagegen auflehnen und ihn auswürgen. Doch nein. Nein, er glitt ziemlich glatt die Kehle hinab. Er trank weiter.
Und er trank, bis die Schale geleert war, blickte auf, lächelte und reichte sie der Schenkin zurück.
Dann wartete er.
Dies war die ›Öffnung‹. Die vor der ›Erkenntnis‹ kommt.
Schön. Aber wieso geschah nichts weiter? Weshalb hatte er nicht wie Ajax oder wie Herodes glasige Augen bekommen? Und weshalb schwankte er nicht, war nicht benommen? War er gegen Calandolas scheußlichen Wein gefeit und immun? War er so tief hinter den Mauern seines Wesens vergraben, daß es für ihn keine Öffnung geben konnte?
Er blickte zu Calandola. »Ich fühle nichts«, sagte er. »Vielleicht wenn ich noch eine Schale voll, Lord Calandola…«
Calandola lachte — ein merkwürdiges langgezogenes Gelächter, dünn und wie aus weiter Ferne, und es rieselte auf Gilgamesch nieder wie fallendes Wasser. Eine andere Antwort erfolgte nicht.
Dann erklang eine summende Stimme irgendwo von links: »Ssschade, ssschade, du gehst in die Irre, Weltenwanderer Gilgamesch! Nicht weiterer Wein ist dir vonnöten! Die Mauern sind gestürzt! Die Öffnung ist vor dir!«
»Was? Wie?«
»Sieh mich in meiner Offenbarung! Und was du schaust, ist mein früheres Selbst.«
Gilgamesch blieb der Mund offen stehen. Ajax war verschwunden und an seiner Stelle schwebte ein bizarres Wesen auf halber Höhe zwischen dem Boden und Gilgameschs Schulter. Es war irgendwie wespenhaft, aber größer als irgendein Insekt, das er je gesehen hatte, und bedeckt von einer schimmernden blauen Kruste, fast wie aus edlen Steinen. Aus dem Hinterteil ragte ein scharfer grüner Stachel, und das kleine Gesicht war das Gesicht einer Menschenfrau. Sirrend und flügelschlagend schwebte das Tier neben ihm.
»Siehst du?« sirrte das Wespenweib. »In der Öffnung wird vieles sichtbar! In meinem letzten Leben war ich dies, nun, in der Nachwelt kam ich als der Hund Ajax zurück.«
»Deinem letzten Leben…«
»Als ein Insekt, ja. Obwohl ich zuvor ein Mensch von Fleisch und Blut war, genau wie du. Doch ich gab mich der Sünde hin, und hinabzusteigen war ich gezwungen. Zur Strafe wurde ich in ein Insekt verwandelt, und gewaltig litt ich. Doch dann zu späterer Zeit erhielt ich die Vergünstigung, ein Hund werden zu dürfen. Verstehst du? Es geht die Stufenleiter hinab und dann, manchmal, wieder hinauf. Ich habe noch immer Hoffnungen, über den Hund hinaus aufzusteigen. Ich steige weiter, werde mehr sein als ein Hund. Obwohl Hund gar nicht so schlecht ist. Wer einmal Insekt war, für den ist Hundsein schon sehr erstrebenswert.«
Aha. So war das also. Gilgamesch begriff. Sein Hund Ajax war also eines jener unglücklichen Geschöpfe, deren Schicksal es war, von einem Körper in den anderen, von einer Gestalt in die andere zu wandern bei dem nie endenden Aufenthalt in der Nachwelt. Also bewirkte Calandolas Wein doch irgend etwas, wenn er ihn befähigte, derlei Dinge zu erkennen. Doch, er war sich nun sicher, eine Öffnung war sozusagen erreicht worden, und er nahm Dinge wahr, die außerhalb der gewöhnlichen Begriffe lagen.
»Nein, wirklich, Hund ist gut«, summte das Wespenweib weiter. »Es ist schön, den König Gilgamesch als Herrn zu haben. Ich folge und gehorche dem mächtigen Helden Gilgamesch, und eines Tages wird er sich meiner erbarmen und mir wieder den Körper eines Weibes geben. Oder vielleicht auch den eines Mannes. Was macht das schon für einen Unterschied, ob weiblich oder männlich, wenn es menschlich ist? Ein Mensch würde ich gern wieder sein, und wer wollte das nicht?«
Lächelnd sagte Gilgamesch: »Wenn ich das tun kann, so will ich es tun.«
Und sogleich war die Wespe wieder der Hund Ajax, lag auf dem Bauch und schnüffelte an seinen Füßen.
Gilgamesch bückte sich und streichelte das Tier liebevoll. Dann wandte er sich Herodes zu.
»Und was ist mit dir?« fragte er. »Du Wespe in menschlicher Gestalt, wie zeigst du dich jetzt?«
Doch Calandolas Trunk hatte bei Herodes keinerlei äußere Veränderungen hervorgerufen. Herodes war immer noch Herodes, der kleine Wuschelkopf mit den huschenden Augen, und er trug eine zerknautschte weiße Toga und kniete demütig fast auf der anderen Seite des Raumes. Und dennoch war etwas nun anders. Der Herodes, den Gilgamesch während seiner paar Tage in Brasil kennenlernte, war voller Geschwätz und Tricks gewesen, mit einem blitzschnellen springenden Verstand, und immer ein ganzes Netz von Worten um sich herumgesponnen, um mögliche größere und dümmere Gegner und Feinde in Schach zu halten. Ein Schutzmechanismus, der ihm während seiner Jahrhunderte in der Nachwelt recht nützlich gewesen war; doch nun schien der ›königliche Wein‹ des Jaqqa-Herrschers ihm seine ganze Attitüde genommen zu haben.
Herodes hatte völlig die Kontrolle verloren, war ein furchtsamer, ängstlicher Mann, der seine Todesjahre genau so verbrachte wie seine Lebenszeit, auf der Suche nach einem Herrn und Meister. Einst war es der römische Kaiser Caligula gewesen, der kurzfristig aus ihm einen König machte. Und später — viel später und hier in der Nachwelt — war es eben Simon der Zauberer. Und nun war es dieses monströse Geschöpf der Finsternis, Calandola. Als nächster Herr konnte sehr wohl Gilgamesch in Frage kommen. Oder Lenin, oder Mao Tse-tung, der Priester Johannes — oder sonst einer aus der Horde von Kaisern, Fürsten, Halbgöttern und Kriegshelden, die sich hier in der Nachwelt in irgendeinem Winkel als Herrscher etabliert hatten. Herodes lechzte nach einem Herrn. Wahrscheinlich würde er viel glücklicher in der Inkarnation eines Hündchens sein. Wenn doch nur irgendwie Ajax und er ihren Leib austauschen könnten! Man sehe sich ihn nur an, wie er dahockt, halb in sich verkrochen! Wünscht sich wahrscheinlich einen Schwanz, um damit zu wedeln. Wünscht sich feuchte braune Augen, die er hingebungsvoll auf seinen Herrn fixieren könnte, statt der gescheiten schwarzen Knopfaugen, die er jetzt hat.
Gilgamesch spürte, wie Verachtung gegenüber diesem Herodes, diesem kläglichen und höchst unköniglichen König in ihm hochwallte.
Aber seine Verachtung schmolz dahin und machte einem tiefen Mitgefühl Platz, das ihn unerwartet heftig überkam, und er fühlte sich durcheinander und unsicher. Wie konnte er Sympathie hegen für den Hund, der eine Wespe gewesen war und sich danach sehnte, wieder menschlich zu werden, nicht aber für diesen Menschen, der mit der Seele eines Hundes umherlief? Herodes verächtlich zu finden, weil er kein Held war, das war an sich eigentlich ebenfalls verächtlich. Es gab keinen Mangel an Helden in der Nachwelt. Zu Tausenden und Zehntausenden stampften sie herum und käuten noch als Tote die Heldentaten wieder. Und wenn Herodes — der arme kleine Herodes — eben keine größere Lust in seinem Leben finden konnte als in knallenden Vulkanausbrüchen oder in den barbarischen Blutritualen eines obskuren Alptraumhaften Wilden, nun gut, dann war das eben so, und war so, weil er der war, der er war. Er hatte ja keine Wahl. Niemand hatte eine Wahl. Der Ratschluß der Götter bestimmte alles.