Du, Gilgamesch, du willst ein Superheld vor allen Helden sein, ein gottähnlicher Mann, ein König der Könige. Und es soll dein Geschick sein, daß du dennoch sterben wirst und auf ewig in der Nachwelt leben mußt.
Du, Enkidu, du willst der kühne Jäger und Krieger sein, der Freund des großen Königs. Und es soll dein Geschick sein, immer wieder zu sterben und zu sterben, auf daß dein königlicher Freund in allen Hallen der Ewigkeit nach dir sucht.
Du, Herodes, wirst schlau sein und vorsichtig, eine Maus in einer Löwenwelt. Und du willst über genug Witz und Wissen gebieten, sie alle zu täuschen, um deinen Thron zu bewahren und am Leben zu bleiben, so schrecklich und gefährlich dir die Macht auch erscheint.
Wir sind allesamt, was wir sind. Das ist die Entscheidung der Götter. Und wir spielen die uns angewiesene Rolle. Weshalb also jene verächtlich finden, die eine andere Rolle spielen müssen? Herodes, Simon, Calandola, der Behaarte Mann, auch diese ganzen kleinen zanksüchtigen hinterhältigen Ränke schmiedenden Später Toten und der ganze Rest — jeder spielte die ihm zugewiesene Rolle und vollzog nur, was die Götter beschlossen hatten. Und ein jeder war auf seine Weise der Hauptheld in seinem eigenen Drama und tat das Erforderliche. Wieso sollte man jemand deshalb verachten und verurteilen?
Gilgamesch trat neben Herodes, beugte sich hinab und ergriff seinen Arm.
»Auf«, sagte er sanft. »Schluß mit dieser Unterwürfigkeit. Du bist ein Mann. Also steh aufrecht wie ein Mann!«
»Gilgamesch…«
»Du brauchst nichts zu fürchten. Ich bin dein Freund. Ich will dich vor allem beschützen, was dir Angst macht.«
Aber während er noch so sprach, erkannte Gilgamesch, daß der Zauber zerbrach, daß die Kraft des Weines ihm entglitt. Und gleich danach war das Gefühl zärtlicher brüderlicher Wärme Herodes gegenüber im Schwinden begriffen. Die verächtliche Verärgerung war wieder da. Dieser klägliche Schwächling von einem Mann — wie konnte er es nur über sich bringen und ihm anbieten, ihn zu beschützen? Was bedeutete ihm schon dieser Herodes? Laß ihn doch selbst gegen seine Dämonen kämpfen. Soll er sich doch vor Calandola prosternieren. Auf dem Kraterrand des Vesuvs tanzen und sich in den kochenden Schlund stürzen, wenn er glaubte, dabei seine höchste Glückseligkeit zu finden. Gilgamesch blickte zu Herodes hinab, schüttelte den Kopf, ließ seinen Arm los und wandte sich von ihm.
»Nun, also wie es scheint, ist es vorbei.« Calandolas Stimme kam wie aus weiter Ferne.
Gilgamesch stand da und blinzelte wie einer, der aus mitternächtlichem Dunkel plötzlich in den Glast der Mittagssonne tritt.
»Das war’s schon?« fragte er. »Die Öffnung?«
»Wenn andere Seelen nackt vor dir erscheinen, ja, das ist die Offenbarung, König Gilgamesch.«
»Und jetzt? Kommt jetzt die Erkenntnis?«
»Nein«, sagte Calandola. »Ein andermal. Du hast dich dem Wein widersetzt und so nur eine Teilöffnung erreicht. Deine Seele ist eine besonders störrische. Sie gibt sich äußeren Kräften einfach nicht hin. Komm ein andermal wieder, König Gilgamesch, dann wollen wir sehen, ob du stark genug bist, die Erkenntnis zu erlangen.«
»Was habe ich falsch gemacht?« fragte Gilgamesch. »Wo habe ich versagt?«
»Du hast dich nicht losgelassen«, sagte Herodes. »Du warst schon fast da, aber im letzten Moment hast du dich wieder zurückgenommen. Wenn die Offenbarung einsetzt, muß man sich dem vollkommen preisgeben. Du hast dich dagegen gewehrt.«
»Kämpfen liegt in meiner Natur. Hingabe nicht.«
»Willst du die Erkenntnis, oder willst du sie nicht?«
»Ich glaubte, ich glaubte, es sei der Einfluß des Weines«, sagte Gilgamesch. »Ich trat in die Seele des Hundes ein. Ich sah, was er in seinem letzten Leben war. Ein Wespentier, weißt du? Mit dem Gesicht eines Weibes und einem gräßlichen Insektenleib. Und dann wandte ich mich dir zu — und ich habe deine Seele gesehen, Herodes, ich sah, wer du tief innen wirklich bist, ich…«
»Schon gut. Du brauchst es mir nicht zu erzählen.«
»Ich habe nichts gesehen, dessen du dich schämen müßtest.«
»Trotzdem, vielen Dank. Ich möchte es lieber nicht wissen.«
»Aber es war, als wären die Trennwände zwischen uns plötzlich zusammengebrochen. Und dann — dann waren sie fast sofort wieder da. Der Wein hatte seine Kraft verloren. Wenn ich vielleicht ein bißchen mehr davon getrunken hätte…«
»Möglich«, sagte Herodes. »Du bist so verdammt groß. Vielleicht hat Calandola sich in der Dosierung vertan. Andererseits betreibt er den Job seit Jahrhunderten. Er weiß bestimmt, welche Menge richtig ist. Ich denke, es liegt an dir, Gilgamesch. Du hast dich nicht preisgegeben, du hast ein Stück von dir zurückgehalten, in Reserve sozusagen. Ich kann das verstehen. Aber wenn du Antwort auf deine Fragen haben willst — wenn du herausfinden willst, wohin Enkidu verschwunden ist…«
»Ja. Ich verstehe.«
»Calandola wird dich vielleicht erst wieder in einer Woche vor sich lassen, oder in einem Monat. Doch wenn er dich rufen läßt, dann geh! Und was immer er dir zu tun aufträgt, tu es! Oder du wirst nichts erfahren. Ja, Gilgamesch?«
»Worüber plaudert ihr zwei denn so angeregt?« fragte Simon, der auf einmal neben ihnen auftauchte. »Brütet ihr eine hübsche kleine Verschwörung aus?« Er klopfte mit einer Hand auf den breiten Rücken Gilgameschs, mit der anderen auf den von Herodes. »Es nützt euch nichts, wißt ihr. Ich habe Weise, die alles sehen und mir alles sagen. Das Vergangene, die Gegenwart und die Zukunft liegen offen für ihre Weisheit da. Der winzigste Verdacht auf ein umstürzlerisches Unterfangen, erscheint sofort als Punkt auf ihren Zauberschirmen.«
»Es besteht kein Anlaß zu Befürchtungen«, sagte Gilgamesch. »Ich glaube, Herodes zieht es vor, hier dein Premierminister zu sein, als höhere Verantwortlichkeiten zu übernehmen. Und es dürfte dir ja einsichtig sein, Simon, daß ich nicht danach lechze, über Brasil zu herrschen.«
»Ich weiß, wonach du dich sehnst, Gilgamesch. Suche doch zur Abwechslung mal du mich in zwei Tagen auf, dann können wir gemeinsam die Uruk-Karte studieren. Wir sollten uns bald auf den Weg machen. Was sagst du dazu, Gilgamesch? König von Uruk im Ruhestand, bald König des wiederauferstandenen Uruk? Wie klingt dir das in den Ohren?«
»Wie Musik«, sagte Gilgamesch.
Simon lachte und ging davon.
Als der Tyrann außer Hörweite war, sagte Herodes beunruhigt: »Ist das etwa wahr? Also willst du schließlich doch wieder König in Uruk werden?«
»Ich sagte nur, daß Simons Worte in meinen Ohren klingen wie Musik.«
»Das sagtest du, ja.«
Gilgamesch lachte. »Aber ich habe nun mal gar nichts für Musik übrig.«
»Aha? Ach so!«
»Und was diese Expedition nach Uruk angeht, schön, schauen wir doch erst einmal, was mir dein großer Calandola an Weisheit zu bieten hat. Bei der echten Öffnungszeremonie. Und der Erkenntnis, die darauf folgen soll. Und dann werde ich begreifen und wissen, ob ich diese Reise unternehmen soll oder nicht. Warten wir es doch einfach ab, König Herodes.«