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11

Wieder die verwinkelte Kammer in der Stollenhöhle. Die schwelenden Fackeln in den Messinghaltern. Die Trommeln, die Pfeifen, die Masken, die Tänzerinnen. Die langbeinigen schwarzen Männer bei unerklärlichen Riten im Schattendunkel. Der Honigwein, das schimmernde Salböl. Es war Gilgameschs dritter Besuch im Hause des Imbe Calandola. Wieder würde er die Öffnung erfahren, wieder diesen anderen stärkeren, den dicken süßen roten Wein trinken. Wieder würde er über die Trennwände hinwegschauen, die Seele von Seele abgrenzen; und diesmal, vielleicht, würden alle geheimnisvollen Schleier fortgenommen, und er würde erfahren dürfen, was zu erfahren er gekommen war.

»Ich glaube, du bist nun bereit«, erklärte Calandola. »Für das profundere Fest. Für die volle Erkenntnis.«

»Ja, reicht mir den Wein«, bat Gilgamesch.

»Heute wird es nicht nur Wein sein«, erklärte Calandola.

Aus dem Dunkel Gesang und Trommeln. Feuer flackerten hinter dem Thron des Imbe-Jaqqa. Ein Geräusch wie von Wasser, das in einem großen Kessel brodelt.

Ein Zeichen von Calandola.

Der Mundschenk trat vor, ebenso die Schüsselträgerin. Wieder trank der Hund Ajax zuerst, danach Herodes, dann Gilgamesch selbst. Doch diesmal trank auch Calandola und trank tief und gebot immer aufs neue, die Schale zu füllen, bis seine Lippen und die Kehle ganz vom Rot beschmiert waren.

»Belial und Beelzebub«, flüsterte Herodes. »Moloch und Luzifer!«

Gilgamesch spürte wieder, wie ihn das seltsame Gefühl der Öffnung überkam. Er kannte die Anzeichen inzwischen: eine unheimliche Gedämpftheit der Geräusche bei gesteigertem Bewußtsein. Unsichtbares streifte ihn in der Luft. Er vernahm ein tiefes Summen, das wie aus dem Herzen der Welt zu dringen schien. Er konnte die Seele des Hundes Ajax und die des Hebräers Herodes berühren; und nun enthüllte sich ihm auch die schreckliche Gegenwart des schwarzen Calandola. Enthüllte sich und blieb dennoch verschlossen, denn obwohl Gilgamesch Calandolas Inneres sah, war da nur eine riesige schwarze Felswand, die vor ihm aufragte, undurchdringlich, unbezwingbar.

»Nun sollst du teilhaben an unserem Fest«, sagte Calandola. »Und die Erkenntnis wird auf dich niederfahren, König Gilgamesch.«

Er warf den Kopf in den Nacken, lachte und ließ seine mächtigen Arme niedersausen wie zwei dicke Keulen. Die Musikanten vollführten ein schmetterndes Getöse mit Donner und schrillem Kreischen. Der Thron ward zur Seite gerückt, und da stand ein gewaltiger metallener Kessel, in dem etwas über einem Feuer aus Scheiten brodelte.

Die Jünger Calandolas bereiteten offenbar eine dicke kräftige Suppe.

Zwiebeln kamen in den Kessel und Lauch und Pfefferschoten, Bohnen und Gurkenkürbisse, Granatäpfel und alle anderen erdenklichen Gemüse und Früchte. Das dampfende Gefäß schien bodenlos zu sein. Maiskolben, Säcke voll Feigen, dicke knollenartige Wurzeln verschiedener Art, und das meiste darunter Gilgamesch unbekannt. Händevoll Knoblauch und noch größere Mengen Rettich, ganze Ingwerstücke. Ein Faß voll eines dunklen Weins, über dessen Herkunft Gilgamesch lieber nicht nachdenken wollte. Fünfzigerlei Gewürze. Und Fleisch. Gewaltige Stücke bleiches rohes Fleisch, das mitsamt der Knochen ganz in den Kessel geworfen wurde.

Eine leichte Beunruhigung regte sich in Gilgamesch Er sagte zu Herodes: »Was ist das für Fleisch, was denkst du?«

Herodes starrte fest auf den Kessel, ohne zu blinzeln. Er lachte auf seine merkwürdig schartige Art. »Eines, das nicht koscher ist möchte ich wetten.«

»Nicht koscher? Was heißt das?«

Doch Herodes gab keine Antwort. Ein Schauder überlief ihn und ließ ihn am ganzen Leib zittern wie ein vom Herbststurm gepeitschtes Bäumchen. Sein Gesicht glühte wie damals, als er ihn bei dem Vulkanausbruch gesehen hatte. Er sah aus wie einer, den ein starker Zauber gebannt hält.

Dank des gemeinsam getrunkenen Weines sah Gilgamesch in die Seele Herodes’. Und was er sah, ließ ihn erstaunt und entsetzt zurückfahren.

»Solches Fleisch?«

»Es heißt, es gibt kein besseres für diesen Zweck, König Gilgamesch.«

Sein Magen krampfte sich zusammen, und er würgte.

Er hatte in vielen fremden Landen viele seltsame Sachen gegessen. Aber niemals dies. Das Fleisch der eigenen Artgenossen zu verzehren?

Nein. Nein. Nicht einmal hier in der Nachwelt!

Hie und da hatte er Geschichten gehört über bestimmte Rassen in fernen Weltgegenden, die so etwas taten. Nicht aus Hunger, sondern aus religiös-magischen Gründen. Um die Kraft, das Wissen oder die geheimnisvollen Tugenden anderer in sich aufzunehmen. Er hatte das nur schwer glauben können, daß Menschen so etwas taten.

Doch aufgefordert zu werden, das auch noch selbst zu tun…?

»Unvorstellbar. Abscheulich! Verboten!«

»Verboten von wem?« wisperte Herodes.

»Also… von…« Er konnte nicht weitersprechen.

»Wir leben in der Nachwelt, König Gilgamesch. Hier ist nichts verboten. Hast du das vergessen?«

Gilgamesch sah ihn starr an. »Und du hast allen Ernstes vor, diese Scheußlichkeit mitzumachen? Du willst, daß ich es gemeinsam mit dir tue?«

»Ich will gar nichts von dir«, erwiderte Herodes. »Aber du bist hergekommen, weil du Wissen suchst.«

»Und das bekommt man dadurch?«

Herodes lächelte. »So heißt es. Es ist das Tor, der Zugang zur Großen Offenbarung, die zur Erkenntnis führt.«

»Und du glaubst diesen wahnsinnigen Quatsch?«

Der judäische Fürst wandte sich zu ihm und sah ihn mit einem erschreckend glaubensfiebrigen Blick an.

»Tu, wie es dir beliebt, König Gilgamesch. Doch wenn du Erkenntnis willst, dann nimm und iß davon. Nimm und iß!«

»Nimm und iß!« dröhnte Calandolas Stimme. »Nehmt euch und esset!«

Die Kannibalen hüpften und tanzten. Eine Frau, vom Schädel bis zu den Zehen mit weißem Kalk bemalt, trug einen Rock aus Stroh, anscheinend eine Art Kostüm für Hexer. Sie eilte zum Zauberkessel, zog ein Stück Fleisch mit bloßen Händen aus der brodelnden Brühe und hielt es in die Höhe.

»Ayayya! Ayayya!« brüllten die Jaqqa. »Ayayya!«

Die Strohhexe trug das Fleisch zu Calandola und hielt, es ihm zur Begutachtung hin. Er grunzte zustimmend, packte das Fleisch mit beiden Händen und grub die Zähne hinein.

»Ayayya! Ayayya!« brüllten die Jaqqa.

Gilgamesch merkte, wie der Wein der Wilden von seiner Seele Besitz ergriff. Er schaukelte im Rhythmus der gellenden mißtönenden Musik. Herodes neben ihm schien inzwischen gänzlich entrückt, völlig verloren zu sein in faszinierter Hingabe an die abscheuliche Zeremonie. Als hätte er sein Leben lang und sogar in seinem Leben nach dem Leben darauf gewartet, sich den krankhaften Mysterien Calandolas auszuliefern. Oder aber, als könnte er nicht anders, als sich dem hinzugeben wohin immer es ihn bringen würde.

Und ich selbst spüre es auch, wie es mich mitreißt, dachte Gilgamesch bestürzt und erstaunt.

»Nimm«, sagte Calandola. »Iß!«

Genüßlich hielt er Gilgamesch das dampfende Stück Fleisch hin.

Ihr Götter! Enlil und Enki und Himmelsvater An, was tue ich denn da?

Aber die Götter wohnten weit von hier. Gilgamesch sah starr auf den Klumpen Fleisch.

»Dies ist der Weg zur Erkenntnis«, sagte Calandola.

Dies?

Nein. Nein. Nein und NEIN!

Er schüttelte den Kopf. »Es gibt Dinge, die zu tun ich nicht bereit bin, nicht einmal, um Erkenntnis zu gewinnen.«

Der Duft aus dem Kessel mischte sich mit dem Geruch eines unbekannten Weihrauchs, der in großen Schalen daneben schwelte, und Gilgamesch fühlte, daß er mehr benommen wurde und zu schwanken begann. Er drehte sich um und taumelte drei Schritte auf den Ausgang zu. Die Gläubigen und Ritualdiener wichen beiseite und machten ihm Platz, als er davonstolperte. In seinem Rücken hörte er das kollernde Gelächter Calandolas, der ihn wegen seiner Feigheit verhöhnte.