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Dann trat Herodes ihm in den Weg und hielt ihn auf. Der kleine Mann wirkte wie ein Bogen mit gespannter Sehne, er zitterte und bebte.

Heiser rief er: »Geh nicht fort, Gilgamesch!«

»Das hier ist kein Ort für mich.«

»Aber die Erkenntnis — was ist mit der Erkenntnis?«

»Nein.«

»Wenn du versuchst, hier wegzugehen, wirst du ohne mich nie durch diese Stollen hinausfinden.«

»Ich werde es eben darauf ankommen lassen.«

»Ich bitte dich«, sagte Herodes. »Bitte! Bleib. Warte. Empfange mit mir das Sacramentum, die Heiligung!«

»Das Sakrament? Die Heiligung? So nennst du das da?«

»Es ist der Weg zur Erkenntnis. Geh ihn mit mir. Tu es für mich. Weise mich nicht zurück. Weise mich nicht ab. Wir sind schon beinahe dort, Gilgamesch; der Wein ist in unseren Seelen, unser Geist öffnet sich bereits füreinander. Nun folgt die Erkenntnis. Bitte! Bitte!«

Noch nie hatte Gilgamesch im Gesicht eines Menschen einen derart flehentlichen Ausdruck gesehen. Nicht einmal in der Schlacht, wenn er die Streitaxt hob, um einem Feind den Todesstreich zu versetzen. Herodes streckte Gilgamesch die Hände entgegen. Gilgamesch zögerte.

»Auch ich bitte dich«, ertönte eine Stimme links von ihm. »Geh nicht fort von hier. Laß nicht treue Freunde im Stich!«

Es war Ajax.

Der Hund schwankte flackernd wie Schatten, die vom Feuer auf eine Wand geworfen werden: einmal war es der große gescheckte Hund, dann das fremdartige kleine Wespenweib, dann, für einen kurzen Augenblick, flüchtig eine menschliche Gestalt, eine Frau mit traurigen Augen, die scheu und hilflos lächelte.

»Wenn du von dem Fleisch ißt, kannst du mich befreien«, sagte der Hund. »In die Seele vordringen, Hund und Geist trennen. Du hättest die Kraft. Die arme leidende Seele in den nächsten Grad zu senden, den Hund als Hund fortbestehen zu lassen. Ich flehe dich an, mächtiger König.«

Gilgamesch sah den Hund unschlüssig an. Sein jammerndes Flehen rührte ihm tief ans Herz.

»Deine Freunde, gewaltiger Held. Vergiß nicht deiner Freunde in der Stunde der Erlösung. Die lange Versklavung soll enden! Und du allein vermagst die Freiheit zu schenken!«

»Ist dies die Wahrheit?« fragte Gilgamesch Herodes.

»Möglich. Das Ritual verleiht denen große Macht, die bereits Kraft in sich tragen.«

»Vergiß nicht deiner Freunde!« jammerte die Wespenfrau laut, in einem Versuch, das wahnsinnige Getöse um ihn zu durchdringen. Und eine innere Stimme befahl ihm: Tu es. Tu es!

Und warum nicht? Warum nicht? Warum denn nicht?

Dies ist die Nachwelt, und es gibt auch keinen Weg von hier fort.

Er ging zu Calandola hinüber, der ihm noch immer das Fleisch entgegenhielt. Der Kannibalenhäuptling grinste ihn zähnefletschend an, doch er begegnete dem grimmigen Ausdruck mit Gelassenheit und ergriff das Stück Fleisch. Dann wog er es einen Augenblick in der Hand. Es war warm und zart, ein vorzügliches, saftiges Stück. Aus den verschütteten Tiefen seiner Erinnerung kamen ihm Worte in den Sinn, die man ihn vor fünftausend Jahren gelehrt hatte, als er jung war und der neue König und bei der nächtlichen Zeremonie der Heiligen Hochzeit vor den Priestern Uruks kniete:

Was gut dir selbst erscheint

Verbrechen ist es vor dem Gott.

Was deinem Herzen böse scheint

Gut ist es vor deinem Gott.

Wer könnte begreifen, was die Götter sinnen

In den Tiefen ihres Himmels?

»Nimm es schon«, keuchte Herodes. »Iß!«

Ja, dachte Gilgamesch. Das ist der Weg. Er hob den Fleischbrocken an die Lippen. »Ayayya! Ayayya! Ayayya!«

Er biß kräftig hinein, schmeckte und schluckte, und von dem nahen Vulkan erklang ein schreckliches Getöse, und die Erde erbebte, und als er das verbotene Fleisch kostete, drang im gleichen Augenblick die Erkenntnis in ihn.

Es war, als werde er zum Gott. Alle Dinge lagen offen vor ihm da, oder so kam es ihm jedenfalls vor. Nichts war mehr verborgen. Seine Seele wurde emporgetragen, und er blickte hinab auf allen Raum und alle Zeit.

»Deine Freunde, Gilgamesch«, flüsterte eine Stimme von hoch oben. »Vergiß nicht — deine Freunde!«

Nein, er wollte sie nicht vergessen.

Er schickte seine Seele hinüber in den Hund, der das Wespenweib war, das einst eine Sünderin und ein Mensch gewesen war. Ohne Schwierigkeit unterschied er die menschliche Seele von der des Hundes und des Insekts und trennte sie von ihnen, hielt sie einen Augenblick lang fest und entließ sie dann wie einen Vogel, den man von der Hand in den Himmel fliegen läßt. Es kam ein langes dankbares Seufzen, dann war die verirrte Seele verschwunden, und Ajax lag zusammengerollt zu Gilgameschs Füßen und schlief, und von dem Wespenwesen war nichts mehr zu sehen.

Sodann wandte er sich Herodes zu. Schaute die Traurigkeit in ihm, die Schwäche, das Verlangen. Sah auch den raschen beweglichen Geist, die Wärme, die sich danach sehnte, anderen angenehm zu sein. Und er berührte Herodes tief innerlich, nur einen Augenblick lang, und ließ etwas von sich über die kleine Entfernung von Seele zu Seele hinüberfließen. Einen Hauch von Stärke; einen Hauch von Unverwüstlichkeit. Hier, dachte er, nimm das von mir; und behalte etwas von mir in dir, für die Zeiten, wenn es dir nicht genügt, du selbst zu sein.

Herodes schien zu glühen. Er lächelte, er weinte, er neigte den Kopf. Und er fiel auf die Knie und sprach ein Dankgebet.

Gilgamesch fühlte die Gegenwart Calandolas, der furchtbar auf ihn eindrang wie ein Titan. Wie ein Gott. Aber dennoch nicht länger bösartig. Kühl, leidenschaftslos, erhaben, diente er nun nur noch als Brennpunkt für das fremdartige Ritual der Seelenverschmelzung.

»Suche du nun nach dem, was du wissen willst, Gilgamesch«, sagte der Jaqqa. »Die Zeit ist gekommen.«

Ja. Ja. Die Zeit ist da. Also — Enkidu?

Wo?

Ah, da. Da war er, in der engen hochwandigen Schlucht, unter den Karawanenleuten, die gestohlene Juwelen transportierten. Da war der umgestürzte Wagen, und jetzt stand er wieder. Van der Heyden fuchtelte Befehle gebend herum. Und dann — dann verdunkelten plötzlich zwei von diesen knatternden wirbelnden Flugmaschinen der Später Toten, Helikopter, Schraubflieger, hießen sie, den Himmel, stiegen aus dem Nichts herab und fügten sich mit gespenstischer Genauigkeit zwischen die Wände der Schlucht. Die Leute im Treck brüllten, rannten, um Waffen zu holen. Die Flugmaschinen schwebten in doppelter Mannshöhe über dem Boden — aus den Seiten ragten Waffenläufe — das brutale Knallen von Geschoßsalven aus Maschinengewehren — rennende, schreiende, zu Boden stürzende Menschen…

Geduckt hinter einem der Wagen, Enkidu, der irgendwoher eine Automatikwaffe mit beiden Händen hielt und zurückfeuerte.

Eine Gestalt, die sich aus dem näheren Schmetterflieger beugte, warf etwas hinunter — es war eine Splitterbombe — schwarzer Qualm, Schreie, überall lagen scheußlich verstümmelte Menschen.

Und Enkidu schoß immer noch weiter…

»Nein!« brüllte Gilgamesch. »Enkidu! Nicht!«

Aber es war, als schrie er in einem Traum. Er war machtlos. Er war kein Gott; und er wußte, daß seine Vision bereits heillos und unrettbar in der Vergangenheit verkapselt war. Enkidu stürzte wie rasend auf den näheren Flugkörper zu, als wollte er ihn mit den Händen in Stücke brechen — einer der Später Toten, ein Mann mit kurzgeschorenen blonden Haaren und kalten blauen Augen, sah verblüfft heraus, griff nach hinten, brachte eine Granate zum Vorschein und entschärfte sie und warf sie — ein plötzlicher greller Feuerschein wie von einer kleinen Sonne — Enkidu mitten darin, kurz sichtbar, taumelnd, niederstürzend…