Niederstürzend…
Und dann war da, wo Enkidu gewesen war, nichts mehr. Wieder einmal war sein Geist fortgerissen worden an jenen rätselhaften Ort des Totentodes, wohin die gesandt werden, die in der Nachwelt zugrunde gegangen waren. Und dort würde er bleiben und warten, im Limbus, ein Jahr vielleicht, eintausend Jahre, vielleicht eine halbe Ewigkeit, man konnte es nie vorhersagen, bis es wieder soweit war, daß er einen atmenden Körper zugeteilt erhielt und in das nachweltliche Totenleben entlassen wurde.
»Wo soll ich ihn suchen? Ihn finden?« fragte Gilgamesch, ganz benommen von Trennungsweh.
Und eine Stimme gab Antwort: »Du mußt ihn suchen in Uruk, der an Schätzen reichen Stadt!«
Gilgamesch schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt kein Uruk!«
»Nein? Bist du sicher, König Gilgamesch? Wurde dir das an Wissen offenbart?«
»Aber…«
Er schaute. Und sah. Und die Schleier über seiner Erinnerung verzogen sich.
Uruk!
Da lag es, schimmernd über einer weiten dunklen Ebene, eine weiße Stadt, strahlend wie ein Juwel. Da war die Stufenplattform mit den Tempeln, die heiligen Gebäude, die Prozessionsstraßen. Uruk. Nicht das Uruk, in dem er geboren wurde, König war und starb, sondern jenes zweite Uruk, Neu-Uruk, das der Nachwelt, dieses große Uruk, das er…
- gegründet hatte…
- hundert Jahre lang regierte, oder waren es tausend…
- er — er, ein König in der Nachwelt…
Er erblickte sich selbst auf dem Thron. Umringt von Hofbeamten, Bittsteller mit Gesuchen, Abgesandte aus anderen Fürstentümern der Nachwelt. Er sah sich Edikte erlassen, Pläne begutachten, die Feldherrn seiner siegreichen Armeen begrüßen. Sah sich als König in der Nachwelt wie in der Welt vor dieser. Sah und erkannte, daß es eine wahre Vision sei.
Die Erkenntnis brach über ihn herein wie ein Sturzbach und wusch alle eingebildeten Gewißheiten fort, nach denen er sein Leben so lange eingerichtet hatte. Wie hatte er glauben können, er sei ausgenommen von der allgemeinen Regel, daß in der Nachwelt die Helden die Mühsal und Kämpfe ihres Lebens wiederholen müssen? Wie konnte er sich so täuschen und glauben, er und Enkidu hätten während ihrer vielen tausend Jahre in der Nachwelt weiter nichts getan, als umherzustreifen, zu jagen, weiterzuwandern und sich hochnäsig einen Dreck um die Ehrsucht zu kümmern, die in allen anderen glutheiß zu brennen schien? Natürlich hatte er auch in der Nachwelt nach Herrschaft gestrebt. Natürlich hatte er auch hier einst Anhänger um sich geschart, hatte eine Stadt erbaut und sie prächtig gemacht und gut gesichert gegen alle Angreifer. Wie hätte es auch anders sein können? War er denn nicht der König Gilgamesch?
Und dann… dann…
Dann das alles zu vergessen…
Er verstand nun. In der Nachwelt war niemals Verlaß auf Erinnerung. Wie oft hatte er das schon gesehen! Ganze Jahrhunderte konnten in einem flüchtigen Augenblick zusammenfallen und waren vergessen. Ganze Reiche konnten entstehen und blühen und ohne Erinnerung untergehen. Hier gab es keine Geschichte. Es gab auch wirklich keine Vergangenheit, sondern nur einen Brei aus zusammenhanglosen Ereignissen, und es gab auch keine Zukunft; und auch kaum eine Gegenwart.
In der Nachwelt war alles Fluktuation und Veränderung, obgleich sich unter dem oberflächlichen Schein nie etwas wirklich veränderte. Gilgamesch hatte ehrlichen Herzens geglaubt, die Zeit hätte die Lust an der Macht in ihm erlöschen lassen. Vielleicht war es ja so. Aber es war ihm jetzt nicht mehr möglich, all das zu leugnen, was er so lange auch vor sich selber hatte verbergen können. Nun wußte er, warum alle diese kleinen Leute hier in der Nachwelt so versessen waren auf Verschwörungen und Revolutionen und die sonstigen Machttrips. Was außer solchem Streben konnte einen sonst davor bewahren, in dieser Ewigkeit verrückt zu werden? Aber er hatte das hinter sich gelassen, hatte er jedenfalls geglaubt. Vielleicht. Vielleicht. Doch vielleicht war er auch noch nicht völlig darüber hinausgewachsen.
Und so stand er, benommen und staunend, mitten im Wirbel von Calandolas Orgie. In ihm loderte die verbotene Speise, die ihm die Augen geöffnet hatte.
Enkidu war erneut gestorben. Uruk Wirklichkeit geworden. Er selbst noch nicht gänzlich gefeit gegen die Gier nach Macht.
Nun habe ich also die Erkenntnis, dachte Gilgamesch.
Er sank auf die Knie, bedeckte das Gesicht mit den Händen, und schwere Seufzer der Trauer und Bekümmernis schossen ihm durch den Leib. Aber ob er um Enkidu trauerte — oder um sich selbst, das hätte er nicht sagen können.
»So bald schon?« fragte Simon. »Wozu deine Eile? Wir benötigen Zeit, um alles richtig zu planen.«
»Ich gedenke, in spätestens fünf Tagen, oder eher, nach Uruk aufzubrechen«, sagte Gilgamesch. »Du magst mit mir ziehen oder nicht, wie es dir gefällt. Ich habe meinen Bogen. Ich habe meinen Hund. Ich bin es durchaus gewohnt, allein durch die Wildnis zu ziehen.«
Simon wirkte verwundert. »Noch vor ein, zwei Tagen hatte ich den Eindruck, es sei höchst zweifelhaft, ob du überhaupt nach Uruk ziehen willst. Es sah nicht einmal so aus, als glaubtest du daran, daß es diese Stadt gibt. Und nun — nun kannst du es kaum erwarten aufzubrechen. Was hat dich denn so plötzlich umgestimmt?«
»Spielt das eine Rolle?« fragte Gilgamesch.
»Es ist wegen deinem Freund, wegen Enkidu, ja? Irgendeiner von unseren Zauberern hat dir geweissagt, daß er in Uruk auf dich wartet. Habe ich recht?«
»Enkidu ist tot.«
»Aber seine Wiedererweckung findet in Uruk statt. Und bis du dort ankommst, ist er dort und wartet auf dich? Richtig?«
»Es könnte so sein.«
»Dann besteht kein Grund zur Eile. Er wird dort warten, bis du kommst. Wann immer das sein mag. Entspanne dich, Gilgamesch. Wir wollen die Sache doch anständig organisieren. Mit ausgesuchten Männern, vernünftiger Ausrüstung, die Landrover müssen gründlich durchgecheckt werden…«
»Dann mach du das alles, bitte. Ich habe nicht vor, hier länger herumzuwarten.«
Simon seufzte. »Hast. Überstürzung. Einfach lospreschen, ohne es vorher einen Moment lang zu durchdenken! Das ist nicht meine Art. Und ich hätte es auch nicht von dir gedacht. Ich glaubte, du bist anders als alle die übrigen hirnlosen Helden.«
»Das glaubte ich auch«, entgegnete Gilgamesch.
»Zehn Tage?« sagte Simon.
»Fünf!«
»Hab Erbarmen, Gilgamesch! Frühestens in acht Tagen. Ich habe hier Verpflichtungen. Ich muß einen Geschäftsplan für meinen Vizekönig aufstellen. Und es gibt Erlasse zu unterzeichnen. Requirierungen anzuordnen…«
»Also gut, acht Tage«, sagte Gilgamesch. »Keine neun!«
»Acht Tage«, sagte Simon.
Gilgamesch nickte und ging. An der Tür im Vorzimmer kauerte Herodes, der wahrscheinlich gelauscht hatte. Nein, der ziemlich sicher gelauscht hatte. Er hob den Blick, schaute aber Gilgamesch nicht in die Augen. Seit ihrem letzten Besuch in Calandolas Höhle war Herodes zurückhaltender geworden, scheu, in sich gekehrt, als könne er die Erinnerung an das erschreckende Ritual nicht ertragen, in das er Gilgamesch verführt hatte.
»Du hast es gehört?« fragte Gilgamesch.
»Was gehört?«
»In acht Tagen brechen wir nach Uruk auf, Simon und ich.«
»Ja. Ich weiß.«
»Und du wirst Vizekönig, glaube ich. Das tut mir leid für dich.«
»Nicht nötig.«
»Aber du wolltest doch das nicht.«