»Nein, ich wollte nicht Vizekönig werden. Aber das werde ich auch gar nicht. Es gibt also kein Problem.«
»Ja, wenn nicht du, wer denn dann?«
Herodes zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Von mir aus Calandola.« Zögernd streckte er die Hand nach Gilgamesch aus, unsicher, berührte ihn beinahe am Arm. »Laß mich mit dir gehen!« sagte er hastig.
»Was?«
»Nach Uruk. Ich kann nicht länger hier bleiben. Ich gehe mit dir. Überallhin.«
»Sprichst du im Ernst?«
»Es ist mir so ernst wie noch nichts in meinem Leben.«
Gilgamesch betrachtete den kleinen Mann eindringlich und lange. Ja, er schien es wirklich ehrlich zu meinen. War anscheinend ehrlich willens, die Annehmlichkeiten und schalen Gruselschauder in Brasil aufzugeben, um auf gut Glück durch das Hinterland der Nachwelt zu streifen? Doch, ja, er schien es wirklich und wahrhaftig zu wünschen. Vielleicht hatte ihn das Erlebnis in der Höhle tief unter der Stadt verändert. Es war ja auch schwer vorstellbar, daß einer so etwas mitmachte und unverändert daraus hervorging. Doch vielleicht lag die Wahrheit ganz woanders, und der klägliche kleine Herodes hatte sich bloß wieder in eine neue Klammerbindung verstiegen, die er nicht durchbrechen konnte.
»Nimm mich mit dir«, sagte Herodes noch einmal.
»Es wird eine anstrengende Tour, Herodes. Du hast dich hier an ein leichtes bequemes Leben gewöhnt.«
»Ich kann mich auch an etwas anderes gewöhnen. Laß mich mit dir gehen.«
»Ich halte das nicht für gut.«
»Du brauchst mich, Gilgamesch.«
Gilgamesch hatte Mühe, darüber nicht laut zu lachen. »Ich brauche dich?«
»Du wirst wieder König sein, wenn du in Uruk ankommst, nicht? Du wirst es sein wollen. Du kannst es vor mir nicht verheimlichen, Gilgamesch. Ich war bei dir, als du die Erkenntnis empfingst. Und ich habe sie ebenfalls empfangen.«
»Und falls ich wirklich wieder König werde?«
»Dann brauchst du einen Narren«, sagte Herodes. »Jeder König braucht einen Hofnarren. Auch ich hatte einen, als ich ein König war. Doch irgendwie finde ich, daß ich mich für die Rolle des Narren besser eigne. Nimm mich mit. Ich mag nicht hier in Brasil bleiben. Und ich will nicht noch einmal in Calandolas Höhle hinabsteigen. Es wäre möglich, dort noch einmal an einem Festschmaus teilzunehmen. Oder ich würde vielleicht selbst als Essen im Kessel landen dort unten. Willst du mich nicht mit dir gehen lassen, Gilgamesch?«
Gilgamesch zögerte, zog die Brauen zusammen. Schwieg.
»Warum nicht?« drängte Herodes. »Warum?«
»Tja«, sagte Gilgamesch. »Warum nicht?« Sein eigener Lieblingsausspruch wehte ihn hier wieder an. Dieses große Warum nicht? der nicht endenwollenden Nachwelt.
»Und? Wirst du?« fragte Herodes.
»Tja«, sagte Gilgamesch noch einmal. Die Vorstellung war nicht ganz ohne Reiz, fand er. Seit dem Aufenthalt in Calandolas Höhle hatte er den kleinen Hebräerkönig eigentlich irgendwie liebgewonnen. Sicher, er steckte voll Schwächen, aber da war auch diese starke Menschlichkeit und Toleranz. Und Herodes war intelligent und zugleich klug, eine gute, nicht übermäßig verbreitete Mischung. Er konnte ein anregender Gefährte werden, wenn er nicht gerade säuselte und quasselte. Höchstwahrscheinlich ein besserer Weggefährte als dieser alte Weinsäufer Simon. Und möglicherweise würde Herodes ja nicht dermaßen viel schnattern und summen und quatschen, wenn sie erst einmal draußen im Outback durch die rauhe Wildnis zögen. Es war eigentlich gar nicht so unsinnig. Doch. Ja. Gilgamesch lächelte und nickte zustimmend.
»Warum nicht, Herodes? Warum nicht?«
12
Braun und Gelb schien sich die westliche Schotterwüste der Nachwelt Millionen Meilen weit vor Gilgamesch und seinen Reisegefährten zu dehnen, über den Horizont hinaus und zu beiden Seiten bis in den Himmel. Vielleicht war das ja wirklich so. Die enge bröckelige Landstraße, auf der sie dahinzogen, schien hinter ihnen zu verschwinden, sobald sie ein Stück weiterfuhren, als verschluckten hinter ihnen gierige Dämonen die brüchigen Pflastersteine, und vor ihnen schien die Straße in mehrere verschiedene Richtungen gleichzeitig zu führen.
»… aber zweifellos wirst du mir doch zustimmen, Gilgamesch«, sagte Simon der Magier, »daß es besser ist, in der Nachwelt ein Herrscher zu sein, als Sklavendienste zu tun.«
»Ich fürchte, du zitierst nicht ganz korrekt«, erwiderte Gilgamesch ruhig. »Aber das macht nichts. Wir haben in unserem Diskurs den Faden verloren, sofern es da je einen gab. Habe ich mich über dich lustig gemacht? Schön, wenn ja, dann ersuche ich dich, mir zu vergeben, Simon. Ich tat es nicht absichtlich.«
»Geredet wie ein König. Es gibt keine Ranküne zwischen uns. Magst du noch einen Schluck Wein?«
»Ja, warum nicht?« sagte Gilgamesch.
Tag und Nacht war die Karawane ohne Unterbrechung über das öde unfruchtbare Land dahingerollt. Die Küste über der Inselstadt Brasil hinauf, in der Hoffnung, eine Stadt zu entdecken, deren Existenz bislang nur bloße Vermutung und Spekulation war.
Gilgamesch trank schweigend. Der Wein war in Ordnung. Er hatte schon Übleres getrunken. Doch nach tausenden Jahren konnte er sich noch immer lustvoll an den Geschmack des süßen kräftigen Weins und des dicken schäumenden Biers im Sumer-Land erinnern. Ach, besonders der Wein! Wie viele Krüge dieses dunklen purpurnen Getränks hatte er gemeinsam mit Enkidu in ihrem alten Leben geleert! Wahrlich, der Wein erhob des Mannes Seele und Herz. Doch hier in der Nachwelt war wenig Gelegenheit zur Erhebung, und der Wein brachte nur flüchtige Freude. Ein kurzes Prickeln auf der Zunge, und dann war es vorbei. Aber hier erwartete man ja auch nicht mehr. Einst, anfangs hatte er das anders gesehen. Er hatte geglaubt, hier sei eine Art zweites Leben, in dem man echte Leistung erringen, wirkliche Ziele durchsetzen konnte, echte Lust erfahren, große Reiche gründen konnte. Nun ja, es war ein Sekundärleben, ein Über-Leben, das war nicht zu bezweifeln. Aber der Wein, der hatte hier nur einen sehr blassen Geschmack. Genau wie die Leiber der Frauen oder ein warmes duftendes Stück Bratenfleisch. Hier war nicht der Ort, an dem echte Freude, wirklicher Genuß zu finden war, wie er sie in Erinnerung hatte. Hier lebte man einfach weiter und weiter und weiter. Diese Nachwelt war in sich selber sinnlos, und deshalb war auch jegliches Streben hier sinnlos. Zu diesem kühlen, trostlosen Schluß war Gilgamesch schon vor langer Zeit gekommen. Und er fand es reichlich verwirrend, daß so wenige dieser großen Heroen, dieser Sultane, Kaiser und Pharaonen und wie sie sonst hießen, während ihrer langen Aufenthaltsdauer hier diese Wahrheit nicht begriffen hatten.
Er wackelte mit dem Kopf, um diese Gedanken, die nicht mehr zu ihm passen wollten, wegzuschüttein. Er hatte kein Recht mehr, den Ehrgeiz anderer Männer verachtungswürdig zu finden, seitdem er durch die Hände Imbe Calandolas in Brasil das Wissen empfangen hatte.
Und er erinnerte sich, daß auch er in der Nachwelt mit Königtum herumgespielt hatte, sogar er, der ernüchterte und abgeklärte Gilgamesch. Er hatte an diesem Ort des Chaos nach Macht gestrebt, und er hatte sie gewonnen, und hatte eine große Stadt gegründet und daselbst in großer Herrlichkeit geherrscht. Und dann hatte er das alles vergessen und war brav und fromm durch die Nachwelt getrabt und hatte fest und überzeugt behauptet, daß er über derlei irdisches Wunschverlangen hinaus sei.
Es stand ihm schlecht an, andere für ihren Ehrgeiz und ihren Stolz auf Errungenschaften zu schmähen. Er hatte einfach vergessen, daß er auch so war, da lag der Fehler. In der Nachwelt konnte einer alles vergessen. Das verstand er nun. Erinnerung war hier etwas Zufälliges. Ganze Erlebnissegmente versackten einfach, tausend Jahre turbulente Geschehnisse. Um dann unerwartet wiederzukommen und einen Mann in tiefste Seelenwidersprüche zu verstricken.
Gilgamesch fragte sich, ob die fiebernde Machtgier, die er derart verächtlich gefunden hatte, ihn nicht über kurz oder lang erneut packen würde. Die Nachwelt konnte einem geschickt gegensätzliche Feuer in der Brust entfachen, das wußte er: Wovon einer zutiefst überzeugt war, daß er so etwas nie tun würde, dabei ertappte man sich hier dann mit hoher Wahrscheinlichkeit.