»Nun sieh dir bloß diese Gegend an!« murrte Simon. »Es wird immer scheußlicher. Immer schlimmer!«
»Ja«, antwortete Gilgamesch. »Wir sind an den Rand des Nichts gelangt.«
Anfangs hatte die Expeditionskarawane aus sieben Geländefahrzeugen bestanden — Simons vergoldetem kugelsicheren Palankin; zwei weniger prunkvollen Sänften für Gilgamesch und Herodes; und vier weiteren Vehikeln für das Gepäck und die Sklaven. Doch am dritten Tage war ganz plötzlich die Straßendecke unter den letzten Wagen des Bagagetrosses eingebrochen, und in purpurnen Flammen und mißtönendem Geheul unsichtbarer Geister war der letzte Landrover verschluckt worden. Dann, zwei Tage später, hatte Simons grandiose Motorkutsche plötzlich Pestbeulen an der schimmernden Panzerung entwickelt, war wie von scheußlichen Pockennarben bedeckt, und das Fahrgestell hatte begonnen zu schmelzen und zu zerfließen, wie wenn es von einer Säure zerfressen würde. Also blieben ihnen nur fünf Landrover. Simon reiste verstimmt und genervt mit Gilgamesch im vordersten Wagen und tröstete sich mit gewaltigen Mengen des süßen dunklen Weins.
Dieses angebliche Uruk, das sie suchten, dachte Gilgamesch, konnte irgendwo im Norden liegen, im Süden, Osten oder Westen. Oder auch ganz woanders. Oder nirgendwo. Vielleicht war Uruk ja überhaupt nur ein Gerücht, eine Vision, ein phantastischer Wunschtraum, die Ausgeburt der überhitzten Einbildung irgendeines Lügners vielleicht, dunstverhangene mündliche Überlieferung. Vielleicht würden sie hundert Jahre danach suchen, oder tausend, und es niemals finden.
Also war diese Queste möglicherweise ein törichtes Unternehmen. Doch nicht zu suchen, das wäre wohl ebenso beschränkt und dumm. Selbst für den Fall, daß Uruk nur ein Trugbild und Traum war, was würden sie schon verlieren, wenn sie danach suchten! »Zeit ist Geld«, hatte einst jemand Gilgamesch gesagt — dieser seltsame alte Knabe Ben Franklin? Oder Sennacgerib aus Assyrien? Time is Money? Ganz falsch, dachte Gilgamesch. In der Nachwelt ist Zeit nichts wert, gar nichts. Und wenn ich auch nur die kleinste Chance habe, auf diese Weise Enkidu zu finden — und Simon die Juwelen, nach denen er lechzt —, schön, warum denn dann nicht? Die einzigen Alternativen dazu wären Nichtstun, Stagnation, Hoffnungslosigkeit. Und schlimmstenfalls würden sie eine Enttäuschung erfahren; aber wenn man gar nichts tut, kann man nicht damit rechnen, je irgend etwas zu erreichen.
Simon rutschte unruhig auf seinem Sitz neben Gilgamesch hin und her und sagte besorgt: »Ich glaubte, wir würden durch ein Gelände voller Marschen und Seen ziehen, nicht durch eine Wüste. Das da sieht aber ganz und gar nicht so aus wie auf der Landkarte, die der Karthager mir verkauft hat.«
Gilgamesch zuckte die Achseln. »Warum sollte es denn? Diese Karte war ein Traum, Simon. Diese Wüste ist ein Traum. Und die Stadt, nach der wir suchen, ist wahrscheinlich ebenfalls nur ein Traum.«
»Aber wieso hattest du es dann so eilig, von Brasil aufzubrechen?«
»Auch wenn es nicht existieren sollte, ist das kein Grund, nicht danach zu suchen«, erwiderte Gilgamesch. »Und sobald wir uns einmal für die Queste entschieden haben, ist es einfach besser, je früher wir damit beginnen, statt es hinauszuschieben.«
»Kein Römer würde solch einen Unsinn reden, Gilgamesch.«
»Möglich. Aber ich bin kein Römer.«
»Manchmal habe ich so meine Zweifel, ob du überhaupt ein menschliches Wesen bist.«
»Ich bin eine arme verdammte Seele, genau wie du.«
Simon schniefte verächtlich und reichte einem Sklaven eine neue Flasche Wein zum Entkorken. »Hört euch den an! Eine arme verdammte Seele, sagt er! Seit wann glaubst du denn an Gericht und Verdammung und dieses ganze hohle Blech der Spät-Toten? Und willst du mich etwa täuschen mit diesem schniefenden Selbstmitleid? Eine arme verdammte Seele! Welche arrogante Heuchelei! Du könntest nicht einmal überzeugend zerknirscht sein, wenn dein Leben davon abhinge! Oder dich ernstlich selber auch nur eine halbe Minute lang bemitleiden! Du bist dafür einfach zu verdammt vornehm!« Damit ergriff Simon die geöffnete Flasche, trank einen tiefen bedächtigen Schluck und nickte, dann rülpste er und bot Gilgamesch die Flasche an. Dieser trank gleichgültig, ohne den Geschmack des Getränks richtig zu bemerken.
»Aber ich meinte es wirklich ganz im Ernst«, sagte er nach einiger Zeit. »Wir alle hier an diesem Ort sind Verdammte, auch wenn das wohl jeweils für verschiedene Leute etwas ganz Verschiedenes bedeutet. Und arm sind wir alle, ungeachtet der Truhen voller Schätze, die wir horten, denn hier ist alles Dämonenwerk und Truggold, ohne Substanz und Gehalt, und nur ein Narr sieht das nicht ein.«
Simons fleischiges Gesicht wurde dunkelrot, und die Flecken und Schwellungen traten deutlicher und zornig hervor. »Mach dich nicht lustig über mich, Gilgamesch. Ich bin durchaus willens, mir eine Menge von deiner Überheblichkeit gefallen zu lassen, weil ich weiß, daß du zu deiner Zeit etwas ganze Besonderes gewesen bist, und weil du viele Eigenschaften besitzt, die ich bewundere. Aber treib keinen Spott mit mir! Und behandle mich nicht so von oben herab!«
»Tu ich das denn, Simon?«
»Unablässig. Du überheblicher aufgeblasener sumerischer Bastard!«
»Wieso verspotte ich dich, indem ich dir sage, ich nehme die Tatsache hin, daß die launischen Götter mich mit einem Fingerschnippen an diesen Ort hier geschickt haben — ebenso wie dich oder Herodes oder jedermann, der jemals auf Erden atmete? Wieso verspotte ich dich, wenn ich zugebe, daß ich nichts weiter bin und niemals etwas anderes war als ein Spielzeug in ihrer Hand — genau wie du?«
»Du, Gilgamesch? Ein Spielzeug in der Hand der Götter?«
»Du glaubst also, daß wir hier einen freien Willen haben?«
»Nur ein Schwachkopf könnte etwas anderes glauben. Versteh doch, Gilgamesch, es gibt nun einmal Herrschertypen und Sklavennaturen«, sagte Simon. »Auch hier in der späten Nachwelt wohne ich in einem mit Rubinen und Smaragden geschmückten Palast und habe Hunderte von Dienern, die mir das Badewasser bereiten, meine Karossen fahren und mir das Mahl zurichten. Und es ist ein verdammt viel angenehmeres Leben als das, was ich in Samaria hatte, oder sogar in Rom. Ich bin hier — wie seinerzeit in der anderen Welt — eine Führerpersönlichkeit für die Leute. Drüben hatte ich eine Sektengemeinde, hier herrsche ich über eine reiche Insel. Bloßer Zufall? Oder freier Wille, Gilgamesch? — Nein! Weil ich es so möchte. Weil ich mich so entschieden und hartnäckig und ehrlich darum bemüht habe.«
»Die Speisen, die du verzehrst, schmecken sie dir?«
»Man sagt mir nach, daß ich die feinste Tafel dieser ganzen Nachweltregion führe.«
»Die feinste, zweifellos. Aber genießt du, schmeckt es dir, was du ißt? Oder ist nicht das Feinste nur eine winzige Spanne von vulgärer Gemeinheit entfernt, Simon?«
»Jupiter und Isis, Mann! Sei doch kein Esel! Das hier ist das Leben nach dem Leben! Wir sind allesamt tot, Gilgamesch. Wer erwartet denn da schon, daß das Essen besonders gut schmeckt!«
»Tot? Aber das ist doch nur ein Wort. Wir sind gestorben; und aus irgendwelchen, nur den Göttern plausiblen Gründen leben wir erneut. Wir atmen, wir haben Hunger, wir fühlen Schmerz, wir empfinden Hitze oder Kälte, Nässe und trockene Geborgenheit. Das hier ist kein gespenstisches Schattendasein, in dem wir stecken. Es ist von anderer Art als unser vorheriges Leben, doch es ist ein ganz eigenes Leben. Und kein sehr angenehmes.«
»Vielleicht nicht für dich, Gilgamesch. Sicher, es gibt da gewisse Nachteile und nicht gerade ideale Besonderheiten. Aber dennoch, ich nutze meine Möglichkeiten, so gut es geht. Wie das jeder leidlich intelligente Mensch tun würde.«