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»Richtig«, erwiderte Gilgamesch beißend. »Wie du so hartnäckig betonst, besitzt du ja einen freien Willen. Verwässert nur durch ein paar belanglose Unannehmlichkeiten.«

»Die Nachteile dieses Ortes hier haben mit dem Problem der freien Willensentscheidung keinen Dämonenfurz zu tun; im übrigen ist es eine törichte Streitfrage, ein Haufen pfeifende Luft, ausgedacht von Später Toten, die nichts zu tun hatten. Wieso sind manche Männer hier Könige und andere Sklaven, außer deshalb, weil wir uns unser Schicksal selbst schmieden?«

»Wir haben darüber bereits debattiert, glaube ich«, sagte Gilgamesch achselzuckend. Er wendete sich ab und blickte starr ins Land hinaus.

Zu beiden Seiten ragten üble zerklüftete Kliffs auf wie schartige Zähne. Die Luft hatte die Färbung von Dung angenommen. Der Boden zitterte wie eine über einen windigen Abgrund gespannte Decke. Ab und zu platzten gasartige schwarze Blasen auf. Alles schien zitternd in gespannter Bewegung. Ein blutfarbener Regen hatte eingesetzt, doch wie es hier oft geschah, kein Tropfen erreichte den ausgedörrten Boden. Magere hundeähnliche Tiere, die ganz aus Mäulern und Reißzähnen und Augen zu bestehen schienen, rannten neben der Straße her und sprangen hoch und jaulten und kläfften. In weiter Ferne erblickte Gilgamesch einen dunklen See, der auf die Seite gekippt zu sein schien. Die Straße vor ihnen verlief in irren Windungen zugleich nach rechts und links, ohne sich zu gabeln, und nun sah es so aus, als krümmte sie sich in den Himmel hinauf. Eine Teufelsstraße, dachte Gilgamesch, angelegt, um die zu quälen, die sie befahren. Ein Land der Dämonen.

»Die Karte des Karthagers…« sagte Simon.

»War der reine Schwindel und Betrug«, warf Gilgamesch ein. »Sie wurde unter deinen Händen ganz leer, nicht wahr? Damit solltest du nur reingelegt werden. Vergiß die Karte, Simon. Wir sind, wo wir sind.«

»Und wo ist das?«

Gilgamesch breitete die Hände aus, beugte sich vor und versuchte mit zusammengekniffenen Augen eine Orientierung zu finden.

Doch da draußen war alles nur verwirrend und widerwärtig. Und er begriff, es war töricht, wenn er versuchte, es zu begreifen.

In der Nachwelt durfte man niemals hoffen, Entfernungen oder räumliche Bezüge zu verstehen, oder den Ablauf der Zeit, die Ausmaße von Dingen — oder sonst etwas. Wenn einer weise war, nahm er alles so hin, wie es kam, und stellte keine Fragen. Das, dachte er, war das Grundprinzip in der Nachwelt, die alles andere hier bestimmende Haupteigenschaft der Nachwelt. Man nimmt es, wie es kommt. Und was immer Simon Magus behauptete: Keiner war hier der Schmied seines eigenen Geschicks. Wer so etwas glaubte, betrog sich nur selbst.

Plötzlich verschwand draußen der ganze Wahnsinn, wie von einer Hand weggewischt. Aus Rissen im Boden wuchs dicker grauer Dunst herauf und klebte wie ein Baumwolltuch über allem und hüllte alles in dichte Düsternis. Der Landrover bockte und hielt an. Der nachfolgende, in dem Herodes aus Judäa saß, konnte nicht so rasch halten und krachte dröhnend gegen das Heck des vorderen Wagens.

Dann griffen unsichtbare Hände nach Simons Karosse und begannen sie auf und nieder zu schaukeln.

»Was ist denn jetzt schon wieder?« grunzte Simon. »Sind es Dämonen?«

Gilgamesch hatte bereits seinen Bogen von hinten geholt, den Pfeilköcher, seinen Bronzedolch.

»Räuber, glaube ich. Es sieht mir ganz nach einem Hinterhalt aus.«

Aus dem Dunst tauchten Gesichter auf und spähten durch die beschlagenen Fensterscheiben herein. Verwirrt blickte Gilgamesch zu ihnen hinaus. Glattes dunkles Haar, dunkle Augen, bräunliche Haut — unverkennbar vertraute Gesichtszüge…

Sumerer! Männer seines eigenen Blutes! Diese Gesichter hätte er überall erkannt!

Eine Meute aufgeregter Sumerer umringte den Zug, sprang herum, rüttelte an den Stoßstangen, brüllte!

Simon, entflammt von Zorn und trunkener Tollkühnheit, zog sein römisches Kurzschwert und fummelte am Türgriff herum.

»Warte!« sagte Gilgamesch, packte ihn am Ellbogen und zog ihn zurück. »Bevor du uns in ein Gemetzel stürzt, laß mich erst mal mit den Männern reden. Ich glaube, ich weiß, wer sie sind. Und ich glaube, wir wurden soeben von der Grenzpolizei der Stadt Uruk angehalten.«

In einem weiträumigen dumpfigen Kellerraum in der Straße der Gerber und Färber saß der Mann, der sich Ruiz nannte, unter knisternden, spuckenden Flutlampen an seiner Staffelei und arbeitete unentwegt in der totenstillen Nacht weiter. Sein Oberkörper war nackt. Er war ein untersetzter, kräftiger Mann, über seine Lebensmitte hinaus, mit tiefliegenden durchdringenden Augen und einem runden Schädel, den nur noch ein weißer Haarkranz zierte.

Die Arbeit ging beinahe gut voran. Beinahe. Doch es war schwer, verdammt schwer. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, wie schwer ihm die Arbeit fiel. Droben war es immer ganz leicht gewesen, so natürlich wie das Atmen. Aber hier tauchten nervende Komplikationen auf, wie er sie im früheren Leben nicht gekannt hatte.

Er betrachtete angestrengt die vor ihm stehende Frau, dann die halb vollendete Leinwand, dann wieder die Frau. Er ließ ihre Eigentümlichkeit in sein Bewußtsein eindringen und sich dort ausbreiten und schwellen, bis sie seine Seele ganz erfüllten.

Was war sie für ein prachtvolles Geschöpf! Siehst du, wie sie da steht, wie eine Priesterin, wie eine Königin, wie eine Göttin!

Er wußte nicht einmal ihren Namen. Sie war eine von diesen uralten Frauen, von der die Stadt übervoll war, eine von diesen Babyloniem, Assyrern oder Sumerern, wie sie leicht direkt einem der alten Sandsteinreliefs aus Ninive gestiegen sein konnten, die sie im Louvre hatten. Schimmernde dunkle Augen, starke edle Nase, schimmerndes schwarzes Haar, im Nacken unter einem zierlichen Silberkrönchen mit Karneolen und Lapislazuli zusammengerafft. Die Frau trug ein prachtvolles Kleid, scharlachroter Stoff, von Silberfäden durchwirkt, an der Schulter mit einer langen geschwungenen Goldagraffe gehalten. Es fiel dem Mann, der seinen Namen als Ruiz angab, nicht schwer, sich vorzustellen, was sich unter der Robe verbarg, und wahrscheinlich würde sie, wenn er darum bat, die Hülle nur zu bereitwillig abstreifen. Vielleicht würde er sie bitten… Später. Jetzt aber brauchte er den Stoff für sein Bild. Die stark gemeißelten Linien waren wesentlich. Sie trugen dazu bei, der Frau diesen wundersam vorzeitlichen Ausdruck zu geben. Sie war Aphrodite, Eva, Ishtar, Mutter und Hure in einem, eine Göttin, eine Königin.

Sie war grandios! Aber das Bild… das Bild…

Mierda! Es ging schief, wie alle die anderen.

Zorn und Verzweiflung wühlten in ihm. Er konnte nicht abbrechen — er würde weitermachen, bis er schließlich ein Bild richtig hinbekam —, aber es war eine unablässige Qual für ihn, diese ungewohnten Fehlschläge, diese bestürzende Unfähigkeit, sich zum Herrn über die eigene Vision zu machen, wie ihm dies so triumphal in den über neunzig Jahren seines früheren Lebens gelungen war.

Überall im Raum stapelten sich Bilder, mitten zwischen gräßlichem Trödel, zerknüllten Hemden, schmutzigen Tellern, zerfetzten Hosen, alten Socken, wachsbetrauften Kerzenleuchtern, geleerten Weinflaschen, fortgeschleuderten Sandalen, Teilen verrosteter Maschinen, Treibholztrümmern, Scherben von Tongefäßen, ausgebleichten Decken, überquellenden Aschenbechern, Werkzeug, Pinseln, Gitarren ohne Saiten, Farbtiegeln, gebleichten Knochen, ausgestopften Tieren, Zeitungen, Büchern, Zeitschriften. Er malte die ganze Nacht hindurch, jede Nacht, und inzwischen — auch wenn er seine Arbeiten meistens wieder vernichtete, indem er die Leinwände neu bemalte — hatte er genügend Stücke zusammengebracht, um ein halbes Museum zu füllen. Aber es war alles falsch, alles, wertlos, Abfall. Schales, nutzloses Zeug, Imitationen seiner selbst, ja sogar Selbstparodien. Worin lag ein Sinn, wenn er die Harlekine und Gaukler noch einmal malte, oder die drei Musikanten? Das hatte er doch alles bereits geschaffen. Sich selbst wiederholen zu müssen, das war schlimmer als der Tod. Das Mädchen vor dem Spiegel? Die kubistischen Sachen? Die Demoiselles? Auch wenn sein jetziges neues Leben ewig währen sollte, was für eine Verschwendung, es damit hinzubringen, daß er sich mit Problemen herumschlug, die er längst gelöst hatte! Aber anscheinend konnte er nicht anders. Es war ihm fast, als liege ein Fluch auf ihm.