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Aber dieses neue Modell — diese mesopotamische Göttin mit den funkelnden Augen — vielleicht würde sie ihn inspirieren und das Bild würde diesmal endlich gelingen.

Der Ansatz war kühn gewesen. Vertrau deinen Augen, vertrau deiner Hand, vertrau auf deine cojones, und male einfach, was du siehst. Schön. Sie posierte wie ein Berufsmodell, stolz und aufrecht, ohne die geringste Verlegenheit. Eine schöne Frau, etwa vierzig, in voller Reife. Er arbeitete mit der vollen früheren Sicherheit, er dachte, daß er vielleicht diesmal die Sache im Griff behalten würde, daß er vielleicht diesmal etwas wirklich Neues schaffen könnte, anstatt sich zu wiederholen. Ihre mythische Großartigkeit einfangen, diese urzeithafte weibliche Göttlichkeit dieser Frau aus Sumer oder Babylon, oder woher sie stammen mochte.

Doch das Bild veränderte sich ihm unter der Hand wie dies immer der Fall war. Als hätte ein Dämon sich des Pinsels bemächtigt. Er mühte sich zu malen, was er sah, und es wurde wieder nur kubistisch, lauter Flächen und Kanten, dieses sinnwidrige Zeug, das zu malen er schon fünfzig Jahre vor seinem Tod aufgegeben hatte. Mierda! Carajo! Me cago en la mar! Er biß die Zähne zusammen und brachte das Bild wieder in den Zustand, den er haben wollte, doch nein, nein, es wurde ganz sanft und glatt und rötlichblau, Zeug aus seiner Rosa Periode, und wenn er es wütend übermalte, bekam das Bild wieder die scharfen Konturen seiner ›Demoiselles d’Avignon‹.

Abgestanden, schal und alt. Alt und schal geworden. Alt, alt, alt.

»Me cago en Dios!« sagte er laut.

»Wie bitte?« fragte die Frau. Die Stimme klang dunkel, rätselhaft und fremdartig. »Was bedeuten diese Worte?«

»Es ist Spanisch«, antwortete er. »Wenn ich fluche, fluche ich immer spanisch.« Jetzt sprach er englisch. Fast alle redeten sie so hier, sogar er, der in seinem anderen Leben diese Sprache so merkwürdig haßerfüllt verabscheut hatte. Aber man hatte nur die Wahl zwischen Englisch und Altlatein — und das fand er noch scheußlicher. Es erstaunte ihn, daß er jetzt tatsächlich englisch redete. Aber hier mußte man eben viele Konzessionen machen. Mit seinen Freunden sprach er noch immer französisch und mit seinen ältesten Freunden unterhielt er sich in Spanisch oder manchmal katalanisch. Mit Fremden war es dieses Englisch. Aber wenn er fluchte, dann immer spanisch. Immer.

»Du bist erzürnt?« fragte sie. »Auf mich?«

»Nein, nicht auf dich. Ich bin wütend auf mich selbst. Auf diese Pinsel. Auf den Teufel. Was für eine Hölle, diese Nachwelt!«

»Du bist drollig«, sagte sie.

»Drollig? Ja, stimmt. Genau das bin ich. Drollig.« Er legte einen Finger auf die Lippen. »Laß mich weiterarbeiten. Ich glaube, ich hab’s jetzt.«

Das tat er dann auch wirklich für ein paar kurze Momente. Tief in die Leinwand hineingebeugt, konzentrierte er sich ganz auf seine Arbeit. Er verzog die Stirn, kaute an seiner Zigarette, kratzte sich am Schädel und malte mit raschen, sicheren Strichen. Die wunderbare Weibsgöttin wuchs ihm aus der Leinwand entgegen. In ihren Augen glühte ein seltsames uraltes Wissen. Doch er war machtlos. Das Bild kippte, es ging wieder schief, es machte sich immer wieder selbständig und entzog sich ihm: Knochen und Zähne zeigten sich, wo er Stoff und Fleisch haben wollte, und wenn er damit kämpfte, rutschte es in Neoklassizismus ab, mit schrillen Farben der Spätperiode und wieder Anflügen von Kubismus, die sich in der linken unteren Hälfte vorzudrängen versuchten. Es war ein unsäglicher Mischmasch, das war es, sämtliche seiner alten Stilrichtungen auf einmal. Dem Bild fehlte jegliches Leben. Ein Anfänger der Kunstakademie hätte so etwas malen können, wenn er genug getrunken hatte. Vielleicht brauchte er einfach ein neues Atelier. Oder Ferien, irgendwo. Aber, überlegte er, dies geht ja schon so, seit er hierher gekommen war, seit dem Tag — er zögerte, die Scheußlichkeit zu denken…

… seit dem Tag seines Todes…

»Also gut«, sagte er. »Genug für heute nacht. Du kannst es dir bequem machen. Wie heißt du?«

»Ninsun.«

»Hm. Ein wundervoller Name. Wunderbare Frau. Wunderbarer Name. Du kommst aus Babylon?«

»Aus Sumer«, sagte sie.

Er nickte. Da gab es einen Unterschied, aber er hatte vergessen, was es war. Morgen wollte er jemand bitten, es ihm zu erklären. Babylonier, Sumerer, Assyrer — alle diese Völker in Mesopotamien, er konnte sie einfach nicht auseinanderhalten. Die ganze Stadt hier wimmelte von Mesopotamiern aller Arten, aber in den ganzen fünf Jahren, die er hier nun hauste, war er nicht dazu gekommen, viel über sie in Erfahrung zu bringen. Fünf Jahre? Oder waren es fünfzig Jahre? Oder fünf Wochen? Irgendwie war es hier unmöglich, das genau zu sagen. Aber das spielte weiter keine Rolle. Überhaupt nicht. Vielleicht war aber nun der richtige Augenblick gekommen, die Frau zu bitten, aus ihrem bezaubernden Kleid zu schlüpfen.

Es klopfte an der Tür, das vertraute dreifache Klopfzeichen, und noch einmaclass="underline" das Zeichen von Sabartes. Nein, es war also nicht der rechte Moment, dieser Priesterin, dieser Göttin, dieser sumerischen Zauberin solche Dinge anzudienen.

Nun, es würde andere Gelegenheiten geben.

Grunzend gab er das Zeichen, daß Sabartes eintreten könne.

Knarrend ging die Tür auf. Und da stand Sabartes und blinzelte. Sein langjähriger Freund, sein Vertrauter, mehr oder weniger auch Sekretär, Schutzwall gegen Störungen und Zudringlichkeiten — und in diesem Moment ärgerlicherweise selbst ein Störfaktor. Derzeit sah er aus wie ein junger Mann mit gesunden fleischigen Wangen und massenhaft wilden schwarzen Haaren auf dem Kopf, der Sabartes der tollen frühen Barcelona-Tage, damals 1902 oder so, als sie einander erstmals begegneten. Wären da nicht die Augen gewesen, das Kinn, die lange schmale Nase, man hätte ihn nicht wiedererkennen können, so vertraut war der Sabartes der späteren Jahre geworden. Es war eine der beiläufigen Perversitäten hier in der Nachwelt, daß die Menschen irgendwie alterslos zurückkehrten. Man gewöhnte sich nicht leicht daran. Der Mann namens Ruiz sah wie etwa sechzig aus. Sabartes knapp über zwanzig, dennoch kannten sie sich seit beinahe siebzig Jahren drüben im Leben, und noch ein paar Jahre mehr — waren es zehn? Zwanzig? Tausend? Hier im Leben nach dem Leben.

Sabartes erfaßte alles mit einem schweifenden Blick: die Frau, die Staffelei, die finstere Stirn seines Freundes. Scheu fragte er: »Pablo, störe ich?«

»Nur bei einem weiteren wertlosen Bild.«

»Ach, Picasso, du bist zu streng mit dir selber!« Er schaute mit wütend funkelnden Augen hoch. »Ruiz. Du mußt immer daran denken, mich Ruiz zu nennen. Niemals Picasso!«

Sabartes lächelte. »Ruiz. Ruiz. Picasso, no. Ruiz. Ach, ich werde mich nie daran gewöhnen!« Er machte eine Wendung und betrachtete bewundernd und mit einem kaum merklichen Anflug von verstecktem Neid die prachtvolle Sumerische Frau. Dann blickte er verstohlen zu der Leinwand auf der Staffelei, und über sein Gesicht huschten flüchtig die verschiedensten komplexen Gefühlsregungen, die der Mann Ruiz nach den vielen Jahren ihrer Freundschaft ebenso leicht zu entziffern vermochte, als läse er etwas von einem steinernen Epitaph ab: Mit Neid vermischte Bewunderung, wieder einmal, für das handwerkliche Können, Ehrfurcht und Unterordnung und Demut, für das Genie, und dann dunkler etwas, das Sabartes vergeblich zu verhehlen bemüht war, ein Ausdruck von Traurigkeit, von Mitleid, fast von herablassender Bekümmerung, nicht ganz ohne einen Anflug von perverser Schadenfreude darüber, daß das Bild mißlungen war. Einen solchen Gesichtsausdruck hatte Ruiz-Picasso in all ihren gemeinsamen Jahren im Leben niemals bei Sabartes gesehen; aber hier in der Nachwelt zuckte so etwas beinahe automatisch auf, sobald Sabartes sich eines der neuen Bilder betrachtete. Wenn dies so weiterging, dachte Ruiz-Picasso, würde er Sabartes das Privileg entziehen müssen, jederzeit zu ihm ins Atelier zu kommen. Es war unerträglich, derart von oben herab behandelt zu werden, besonders von ihm.