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»Wie lange bist du schon hier, Simon?«

»Wer könnte das sagen? Du weißt doch, wie das mit der Zeit geht hier. Aber ich habe mir sagen lassen, daß so an die zweitausend Jahre auf der Erde vergangen sein müssen, seit meinem Aufenthalt dort. Vielleicht ein wenig mehr.«

»In zweitausend Jahren«, sagte Gilgamesch, »hättest du in der Nachwelt fünfmal König sein können und es völlig vergessen haben. Du könntest hundert Königinnen umarmt und sie allesamt vergessen haben.«

Herodes lachte glucksend. »Helena von Troja — Kleopatra — Nefertiti — alles weg und vergessen, Simon, die Form ihrer Brüste, der Geschmack ihrer Lippen, die Laute, die sie in der Lust von sich gaben…«

Simon griff nach seinem Wein. »Glaubst du das auch?« fragte er Gilgamesch. »Kann das so sein?«

»Die Jahre fließen vorbei und zerlaufen ineinander. Die Dämonen spielen mit unseren Erinnerungen. Es gibt hier keine geraden Linien, auch keine durchgehenden ungebrochenen. Und wie sollten wir unseren Verstand bewahren, Simon, wenn wir alles im Gedächtnis behielten, was uns in diesem Nachweltleben widerfährt? Zweitausend Jahre, sagst du? Bei mir sind es fünftausend, oder mehr. Hundert Lebenszeiten. Ach nein, Simon, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß wir hier wieder und immer wieder geboren werden daß unser Bewußtsein leergefegt wird, und die Tortur besteht darin, daß wir nicht einmal wissen, daß es so ist. Wir bilden uns ein, wir wären der, der wir immer waren. Wir glauben, daß wir uns selber begreifen, aber in Wirklichkeit erfassen wir nur die äußerste Oberfläche der Wahrheit. Der unwandelbare Essenzkern unserer Seele, der bleibt stets der gleiche, ja — ich bin immer Gilgamesch, er Herodes, du bleibst Simon, und wir treffen wieder und wieder die gleichen Entscheidungen, die einer mit unserer Natur treffen wird und muß — doch die Bedingungen in unserem Leben sind fließend und veränderlich, wir werden von den heißen Winden der Nachwelt herumgeschleudert, und das meiste von allem, was uns geschieht, versinkt schließlich in Vergessen. Dies ist die Weisheit, die ich bei der Offenbarung durch Calandola erfahren habe.«

»Dieser Wilde! Dieser Teufel!«

»Und wenn schon. Er schaut hinter die flache Realität der Nachwelt. Und ich nehme seine Offenbarung als wahr an.«

»Du hast vielleicht Uruk vergessen«, sagte Herodes, »aber Uruk scheint dich nicht vergessen zu haben, Gilgamesch.«

»Ja, es sieht fast so aus«, sagte Gilgamesch.

In der Tat war er zutiefst bestürzt gewesen, als die sumerischen Grenzwachen ihn sofort als Gilgamesch, ihren König, gegrüßt hatten. Er war noch nicht ganz aus dem Landrover gestiegen, da knieten sie schon vor ihm, schlugen mit den Händen die heiligen Zeichen und jubelten ihm in der alten Sprache des Landes zu, die er so lange Zeit nicht mehr gehört hatte, daß sie ihm fremdartig und grob in den Ohren klang. Es war ihm, als hätte er diese Stadt erst vor ganz kurzer Zeit verlassen — während er doch wußte, daß es selbst angesichts der unergründlichen Zeitabläufe in der Nachwelt bereits eine lange Ewigkeit her sein mußte, seit er zuletzt in dieser Stadt gewohnt haben konnte. In diesem Punkt war seine Erinnerung deutlich, denn er wußte, daß er die letzte Phase seiner Zeit hier großenteils mit Enkidu durch das Hinterland gestreift war und die seltsamen Tiere im Outback, der Wildnis, gejagt hatte, sich aus den Intrigen und dem üblen Treiben in den Städten heraushielt — und diese Zeitperiode in der Wildnis mußte gewiß Jahrzehnte gedauert haben, wenn nicht Jahrhunderte. Und dennoch schienen sein Gesicht und seine Gestalt jedermann in Uruk bekannt zu sein.

Nun gut, er würde darüber in Kürze mehr erfahren. Vielleicht verehrten ihn die Einwohner hier wie eine ehrwürdige Legende und erflehten beständig seine Wiederkehr. Oder, noch wahrscheinlicher, es handelte sich nur um eine weitere Manifestation des Hexenspuks der Nachwelt, der solche Verwirrungen erzeugte.

Inzwischen waren sie fast in Uruk angelangt. Die Straße war flach geworden. Vor ihnen ragte eine feste Mauer aus rotem Backstein auf, und in der Mitte war ein breites Bronzetor, beschrieben mit den Symbolen von Schlangen und anderen Ungeheuern. Als sie herankamen, flog das Tor auf und der ganze Zug rollte hindurch.

Simon, inzwischen ziemlich weinbeduselt, drosch fröhlich auf Gilgameschs Schulter ein. »Uruk, Gilgamesch, wir sind tatsächlich da! Hättest du geglaubt, daß wir wirklich herfinden?«

»Uruk hat uns gefunden«, erwiderte Gilgamesch gelassen. »Wir hatten uns verfahren, in einer Gegend, wo überall Nichts war, und plötzlich lag Uruk vor uns. Also sind wir jetzt da, Simon. Aber wo sind wir?«

»Ach, Gilgamesch, Gilgamesch, was bist du doch für ein nüchterner Klotz! Wir sind in Uruk, egal wo das ist! Freu dich doch, Mann! Lache! Sei fröhlich! Diese Stadt ist deine Heimatstadt! Dein Freund wird da sein — wie heißt er noch? Inkibu? Tinkibu?«

»Enkidu!«

»Enkidu, ach ja. Und deine Verwandten, deine Bruder, dein Vater vielleicht…«

»Wir sind hier in der Nachwelt, Simon. Hier wird dir Genuß zu Asche auf der Zunge. Ich erwarte mir gar nichts von hier.«

»Du wirst wieder König sein. Ist das nichts?«

»Habe ich etwa gesagt, daß ich den geringsten Wunsch verspüre, hier zu herrschen?« fragte Gilgamesch und funkelte Simon an.

Dieser blinzelte überrascht. »Also, Herodes sagt es.«

»Ach, sagt er das?« Gilgamesch durchbohrte den kleinen Hebräerkönig mit einem scharfen Blick. »Wer glaubst du denn, wer du bist, Herodes, daß du dir anmaßen darfst, zu verkünden, was in meinem Kopf vorgeht? Woher nimmst du die Kühnheit zu glauben, du weißt, was in meinem Innersten ist?«

Als fürchtete er, geschlagen zu werden, sank Herodes in sich zusammen und sagte ganz leise: »Es ist, weil ich doch bei dir war, als du die Erkenntnis bekamst, Gilgamesch. Und ich empfing sie mit dir. Hast du das so rasch schon wieder vergessen?«

Gilgamesch dachte darüber nach. Er konnte die Tatsache nicht leugnen. Ruhig sagte er: »Es muß hier in dieser Stadt schon einen König geben. Ich gedenke nicht, ihn zu vertreiben. Aber wenn die Götter mir dieses Geschick bereitet haben, dann…«

»Nicht die Götter, Gilgamesch. Die Dämonen! Wir sind hier in der Nachwelt«, ermahnte ihn Herodes.

»Ja, die Dämonen«, gab Gilgamesch zu.

Inzwischen waren sie weit nach Uruk hineingefahren und hielten nun mitten auf einem weiten Platz. Aus der Nähe erkannte Gilgamesch nun, daß dieses Uruk nur scheinbar eine sumerische Stadt war: Gewiß, viele Gebäude waren im alten Stil, doch es gab auch alle erdenklichen anderen Stilrichtungen und Perioden, diese scheußlichen Bauwerke, die man als Bürohäuser bezeichnet, und der düster brütende Koloß eines Kraftwerks, das giftige Fäulnis in die Luft spuckte, und ein unheimlich wirkender schmutzig-roter Backstein-Barackenkomplex ohne Fenster, und dann an einer Ecke drüben etwas, das aussah wie ein Gerichtshaus oder wie ein Palast in römischem Stil. Vor dem Landrover drängte sich eine Menschenmenge, viele in sumerischer Kleidung, aber keineswegs alle, es war die gewöhnliche Mischung, Früh-Tote und Spätere, in allen den Moden ihrer Zeiten kostümiert. Alle starrten auf ihn. Alle waren stumm.

»Du steigst zuerst aus«, sagte Simon zu Gilgamesch.

Der nickte. Ein Haufen von offensichtlich offiziellen und ihrer Erscheinung nach eindeutig sumerischen Stadthonoratioren hatte sich vor dem Landrover in einer Reihe aufgebaut und schaute erwartungsvoll zu ihm herein. Seine Ankunft hier schien sie einigermaßen zu beunruhigen oder doch zu verblüffen.

Er stieg aus. Er überragte sie alle durch seine gewaltige Größe.

Ein Mann mit einem dichten schwarzen Krausbart und kahlgeschorenem Schädel, gekleidet in den Wollkittel des Sumer-Landes, trat vor und sagte — auf englisch: »Wir grüßen Gilgamesch, den Sohn des Lugalbanda, in der Stadt Uruk und heißen ihn willkommen, und ebenso seine Freunde. Ich bin der Erzvezier Ur-ninmarka, Diener des Königs Dumuzi, dessen Gäste ihr seid.«