Dumuzi schob den Arm unter den Gilgameschs, wandte Simon und Herodes den Rücken, die mit offenem Mund verärgert dastanden, und schleppte ihn mit beinahe krankhafter Hast an die Tafel. Gilgamesch hatte Mühe, den Mann nicht mit einem Hieb für diese unverschämte Übervertraulichkeit zu Boden zu strecken. Aber er ist ein König, mahnte er sich selbst. Er ist König.
Es war allzu leicht, hinter diese verzweifelte Großspurigkeit des Mannes zu schauen. Der Mann bebte vor Furcht. Der Mann zappelte sich heftig ab, um die Kontrolle über eine Situation zu erlangen, die ihm als unendlich bedrohlich erscheinen mußte.
Tausende von Jahren in der Nachwelt hatte er Zeit und Muße gehabt, um über die beschämende Wahrheit nachzudenken, daß er in seinem früheren Leben nichts weiter gewesen war als der kraftlose, entscheidungsunfähige Lückenbüßer zwischen dem Auftreten zweier großer Heroen, Lugalbanda und Gilgamesch, weiter nichts als ein historischer Gedankenstrich. Und nun war er erneut König, war dank eines rätselhaften Gesetzes des Unvermögens erneut zu seiner vormaligen Höhe emporgekommen. Und da war jetzt erneut dieser bedrohliche Brocken Gilgamesch, zu dessen Gunsten er bereits einmal früher verworfen worden war, und kam hierher nach New Uruk wie ein ungebetenes Gespenst und verlangte Gastfreundschaft.
Selbstverständlich würde Dumuzi Herzlichkeit demonstrieren, überschwengliche Herzlichkeit. Dennoch, dachte Gilgamesch, war es vielleicht keine schlechte Idee, sich, solange man in Dumuzis Stadt war, den Rücken bedeckt zu halten. Feiglinge sind gefährlicher als Helden, denn sie greifen ohne faire Warnung an; ein Dumuzi in seiner Ängstlichkeit und seinem Groll konnte eventuell mehr Schaden anrichten, als Achilles in seinem rasenden Zorn es je zuwege brachte.
Einen Augenblick später verflogen diese trübseligen Überlegungen aber vollkommen, denn eine Stimme, die er seit mehr Jahrhunderten, als er noch zählen konnte, nicht mehr gehört hatte, die aber so anders war als die irgendeines anderen Mannes, daß man sie nicht einmal hier je hätte vergessen können, drang von der anderen Seite des Raumes zu ihm und rief ihn bei seinem Namen.
»Gilgamesch! Gilgamesch! Bei der Mutter, du bist es wirklich? Beim Reißzahn! Bei den Hörnern Gottes! Gilgamesch! Hier!«
Gilgamesch spähte. Nahe dem oberen Ende der Tafel war ein Mann aufgestanden und breitete ihm weit die Arme zur Begrüßung entgegen.
Zuerst dachte er, das müsse ein Später Toter sein, denn in der ganzen weiten Halle trug dieser Mann als einziger die befremdliche offizielle Abendkleidung der zuletzt hier eingetroffenen Zugezogenen, eine Kleidungsart, die als ›Geschäftsanzug‹ bezeichnet wurde: Enge graue Beinkleider, die sich dicht an die Schenkel schmiegten, und ein steif wirkender breitschulteriger halblanger Mantel, nicht regelrecht eine Tunika aus dem gleichen dichtgewobenen grauen Wollstoff, darunter ein weißes Kleidungsstück und ein schmaler blauer Stoffstreifen, den er um den Hals geknotet hatte und der ihm auf die Brust herabhing. Und der Mann war außerdem groß, wie dies bei den Später Toten oft der Fall war — weit größer als irgendeiner der Sumerer im Saal, außer Gilgamesch selbst.
Doch diese Stimme war unverkennbar. Es war eine Stimme, die aus der grauen Dämmerung der Zeit heraufkam, aus der verschwundenen Welt vor der Großen Flut, und die Stimme drang scharf und klar durch den weiten Saal wie eine Messingtrompete. Keiner der Später Toten hatte je über eine solche Stimme verfügt.
Auch das magere Gesicht, obschon glattrasiert, war nicht das eines Später Toten. Die Haut hatte jenen polierten Ton, den man in einer Welt voll Wind und Schnee ohne Wärme bekommt. Die Wangenknochen waren breit und kräftig, die Lippen voll, die Nase gerade und stark vortretend, der Mund ungewöhnlich breit. Auch die Augen saßen weit auseinander, und eine Augenhöhle war leer: Eine alte Narbe bedeckte kreuzweise die linke Gesichtshälfte.
Der Mann war König des in Höhlen lebenden Eisjägervolkes gewesen, in der Zeit vor der Zeit, da sogar die Götter noch jung waren; und einst in der Nachwelt hatte Gilgamesch ihn gut gekannt.
Gilgamesch spürte ein fröstelndes Erstaunen. Wie lange lag das zurück, daß sie höchst vergnüglich in der weiten zugigen Festhalle der Eismänner droben im Norden der Nachwelt geschmaust — der weiten Höhle, die von wolligen Tierfellen behangen war und wo die riesigen krummen Stoßzähne der behaarten Elefanten wie Stroh auf dem Boden lagen, wo der dicke Met in Strömen floß und die rauchenden Feuer hoch brannten? Tausend Nachweltjahre? Dreitausend? Es war in seiner frühen Zeit, jener schlichteren, einfacheren Zeit, die nun für immer verloren schien.
»Vy-otin!« rief Gilgamesch laut. Mit einem Jubelschrei stürzte er vor, sprang auf das Podium, auf dem die Festtafel stand, und breitete die Arme zu einer herzlichen Umarmung aus.
»Du hast also nicht vergessen«, sagte der Eisjäger. »Ich glaubte für einen Moment, du kennst mich nicht mehr.«
»Nein, bei den Brüsten der Inanna, wie könnte ich dich jemals vergessen! Die alten Erinnerungen sind heller als alle späteren. Das verflossene Jahr ist mir ganz verschwommen im Gedächtnis, aber diese alten Tage, Vy-otin, du und ich und Enkidu und Minos und Agamemnon…«
»Ach ja. Aber einen Augenblick lang sahst du zweifelnd drein, Gilgamesch.«
»Deine Kleidung, dieses Zeug der Später Toten, hat mich verwirrt«, sagte Gilgamesch vorwurfsvoll. »Du, der lebte, als die Welt jung war und die gewaltigen Zotteltiere umherzogen, als sogar Sumer nichts weiter war als sumpfiges Marschland — du bedeckst deinen Leib mit der geschmacklosen Kleidung der Kreaturen des zwanzigsten Jahrhunderts, wie einer von diesen Typen — wie bezeichnen sie das? — A. D.?« Er sprach es aus, als wäre es ein Schimpfwort. »Ich erinnere mich an einen Mann in Pelzkleidern, Vy-otin, mit einer Halskette aus Eberhauern und mit Armreifen von schimmernden Knochen, nicht aber an dies — an diese Verkleidung als Businessman!«
Vy-otin lachte. »Das ist eine lange Geschichte, Gilgamesch. Außerdem heiße ich jetzt nicht mehr Vy-otin, sondern Smith. Hier im Saal kannst du mich bei meinem wirklichen Namen nennen. Aber in den Straßen von Uruk heiße ich Smith.«
»Smith?«
»Ja, Henry Smith.«
»Ist das ein Name bei den Später Toten? Wie häßlich er klingt!«
»Es ist ein Name, den sich keiner länger als fünf Minuten lang merken kann, nicht einmal ich selber. Henry Smith. Setz dich her zu mir, und wir trinken zusammen ein paar Fläschchen von Dumuzis Wein, und ich erzähle dir, weshalb ich mich so verkleide und mich Smith nenne.«
»Ich ersuche dich, Vy-otin, mit deiner Geschichte noch ein Weilchen zu warten«, sagte Dumuzi, der neben sie getreten war. »Da ist noch jemand, den Gilgamesch zuerst begrüßen muß.«
Er faßte Gilgamesch am Ellbogen und deutete zur anderen Seite der Tafel. Dort hatte sich eine Frau von ihrem Sitz erhoben, eine wunderschöne dunkelhaarige Frau von prachtvoller Gestalt und königlicher Haltung, die ihnen ruhig entgegenlächelte.
Ein wunderbares Geschöpf, strahlend, schön, mit leuchtenden Augen und dem Gehabe einer Göttin. Es war, als verströmte sie Licht um sich. Sie war eindeutig sumerisch, ihr Gesicht und auch ihre Kleidung verrieten es. Sie trug das Gewand einer Priesterin des Himmelsvaters An. Sie war etwa in Gilgameschs Alter, schien es, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als er. Ihr Gesicht kam ihm vertraut vor, doch er vermochte es nicht unterzubringen. Nach ihrer Größe und majestätischen Haltung war sie sicherlich von königlichem Blut, und ihr Gesichtsschnitt sagte ihm, daß sie sogar eine Verwandte von ihm selbst sein konnte. Vielleicht eine seiner leiblichen Töchter? Aber er hatte so viele davon gezeugt. Oder die Enkeltochter einer Urenkeltochter aus der zehnten Generation? Denn hier im Uruk der Nachwelt lebten wie überall hier Leute der unterschiedlichsten Zeitabschnitte ganz durcheinander, und man konnte an jeder Wegbiegung auf irgendwelche entfernte Verwandte stoßen, uralte Ahnen, die hier nur wie kleine Knaben wirkten, und Enkelkinder, die aussahen, als verdämmerten sie in ihrer Senilität.