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Dumuzi sagte: »Magst du nicht zu ihr gehen und ihr deine Aufwartung machen, Gilgamesch?«

»Aber gewiß doch. Nur…«

»Du zauderst?«

»Ich kenne sie irgendwie, Dumuzi. Aber ihr Name fällt meiner Zunge nicht ein, und es beschämt mich, daß ich mich nicht an ihn erinnere.«

»Und mit Recht schämst du dich, Gilgamesch, daß du deiner eigenen Mutter vergessen hast!«

»Meine Mutter?« Gilgamesch flüsterte es heiser.

»Die große Königin Ninsun. Sie ist es, keine andere. Bist du nicht bei Sinnen, Mann? Geh zu ihr! So geh doch zu ihr!«

Gilgamesch sah benommen und ehrfürchtig zu der Frau hin. Und natürlich war es jetzt klar. Natürlich. Die Jahre zerfielen und verschwanden, als wären sie nie gewesen, und er erblickte das Gesicht seiner Mutter — unverkennbar das Gesicht der göttingleichen Gattin Lugalbandas, des Königs von Uruk — das Antlitz dieser großartigen Frau, die den Helden Gilgamesch in die Welt geboren hatte.

Und dennoch… dennoch…

Was uns doch die Nachwelt für Tricks zu bieten hat, dachte er. In den hundert Lebensperioden seines Zweiten Lebens hatten sich ihrer beider Wege nie gekreuzt. Soweit er sich zu erinnern vermochte, hatte er seine Mutter seit jener Zeit in jener langvergangenen anderen Welt nicht mehr gesehen; und er erinnerte sich an sie, wie sie in ihren späten Jahren war, immer noch majestätisch, königlich, doch die Haare weiß wie der Sand, das Gesicht gezeichnet und voller Falten, und hier war sie nun wieder in ganzer kraftvoller Schönheit, nicht jugendlich, aber durchaus nicht alt, sondern eine Frau in voller Lebensreife. Als er sie zuletzt so sah, war er noch ein Kind gewesen. Kein Wunder, daß er sie nicht erkannte.

Aber nun eilte er zu ihr und sank vor ihr auf die Knie, und es kümmerte ihn nicht, was die anderen sahen oder denken mochten. Er hob den Saum ihres Kleides und preßte die Lippen darauf. Die Tausende Jahre seiner Wanderungen durch dieses miserable grausame Land schrumpften ihm zu einem Nichts, und er war wieder der Knabe, der aus seinem ersten Leben, und die Mutter-Göttin war ihm zurückgeschenkt und stand vor ihm, strahlend und voll Wärme und Liebe.

Weich und leise sprach sie seinen geheimen Namen, seinen Geburtsnamen, den niemand außer ihr sagen durfte. Dann befahl sie ihm, sich zu erheben, und er ragte in seiner ganzen Länge auf und schlang die Arme um sie und drückte sie an seine Brust, denn so groß gewachsen sie war, neben ihm wirkte sie wie ein Kind. Nach einiger Zeit gab er sie frei, und sie trat zurück und betrachtete ihn.

»Ich war schon fast verzweifelt, daß ich dich nie wiedersehen würde«, sagte sie. »An jedem Ort, an dem ich in der Nachwelt gelebt habe, hörte ich Geschichten über den großen Gilgamesch, doch nie, niemals, kein einzigmal war ich gerade dort, wo du warst, es sei denn daß mich mein Bewußtsein trog, und in diesem Augenblick glaube ich nicht, daß dem so war. Einmal habe ich Enkidu gesehen, aus der Ferne, in einer gewaltigen tobenden Menschenmenge, ich glaube es war in New Albion, oder im Reich Logres, oder vielleicht der Ort namens Phlegethon, glaube ich. Ich habe es vergessen. Doch wir wurden getrennt, bevor ich ihn rufen konnte. Und als ich mich nach Gilgamesch erkundigte, wußte dort keiner etwas über ihn.«

»Mutter…«

»Und dann kam ich hierher in dieses Neue Uruk, da ich wußte, du warst hier König und säßest vielleicht auf dem Thron. Aber sie sagten mir, du hättest das alte Uruk vor langem verlassen und seiest mit Enkidu auf die Jagd gezogen und niemals zurückgekehrt. Vor mehr Jahren, als irgendeiner sich erinnern konnte. Und ich dachte bei mir, die Götter wünschen offenbar nicht, daß ich meinen Sohn wiedersehen soll, denn hier ist die Nachwelt, und hier gehen nur wenige Wünsche in Erfüllung. Aber dann kam das Gerücht auf, daß du dich der Stadt nähertest. Ach, Gilgamesch! Welche Wonne, dich wieder anschauen zu dürfen!«

»Und mein Vater?« fragte er. »Was ist mit dem göttlichen Lugalbanda? Er kann ja unmöglich auch hier sein, da er ein Gott ist, und wie könnte es in der Nachwelt Götter geben? Aber weißt du etwas von ihm?«

Ninsuns Augen überwölkten sich flüchtig. »Auch er ist hier, dessen bin ich gewiß. Denn jene, die in Sumer nach ihrem Leben vergöttlicht wurden, sind nicht länger Götter und hausen hier wie alle anderen. Mich hast du einst zur Göttin gemacht, erinnerst du dich nicht?«

»Ja.« Es war nur ein Murmeln.

»Und du selbst — einst wurdest auch du zu den Göttern gezählt. Es ist unwichtig. Wer als Sterblicher lebt, der stirbt wie die Sterblichen und kommt an diesen Ort.«

»Dann weißt du also mit Sicherheit, daß Lugalbanda hier ist?«

»Nicht mit Sicherheit, nein. Aber ich glaube es. Von ihm habe ich in all der Zeit hier kein Wort gehört. Doch eines Tages werden wir uns wiederfinden, dessen bin ich mir ganz sicher.«

»Ja«, sagte Gilgamesch wieder nur und nickte. Der Gedanke war ihm niemals gekommen, daß auch sein Vater hier irgendwo in der Nachwelt sein könnte, doch die Möglichkeit erregte ihm freudig-überrascht die Brust. »In der Nachwelt geschieht alles mögliche, früher oder später. Du wirst mit deinem königlichen Gemahl wieder vereint werden und an seiner Seite leben, wie der Himmelsvater es bestimmte, denn ihr wurdet einander für alle Zeit verbunden, und dieser zeitliche Abschnitt in der Nachwelt bedeutet nur eine kurze Trennung, und ich…«

Ninsuns Gesicht bekam einen seltsamen Ausdruck. Sie schlug kurz die Augen nieder, als schämte sie sich. Die königliche Würde, der Göttinnenglanz wichen von ihr, und sie war kurz nur eine gewöhnliche sterbliche Frau.

»Hab’ ich was Falsches gesagt?« fragte er.

Und sie antwortete: »Du hast nichts gesagt, was nicht richtig wäre. Doch ich möchte dich mit meinem Freund bekannt machen, Gilgamesch.«

»Deinem — Freund?«

Auf seltsam mädchenhafte Weise errötete sie, und Gilgamesch konnte das nicht mit seinen Erinnerungen an die königliche Haltung seiner Mutter in Übereinstimmung bringen. Sie wies mit dem Kopf zu einem Mann von beträchtlichen Jahren, der auf dem Platz neben dem ihren saß und sich nun erhob.

Er reichte Gilgamesch nicht einmal bis zur Brust. Ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann, sehr klein, einen halben Kopf kleiner als Ninsun selbst; und dennoch — als Gilgamesch ihn genauer betrachtete, erkannte er, daß der Mann, trotz seines hohen Alters, eine seltsame ursprüngliche elementare Kraft ausstrahlte, eine ungewöhnliche beherrschende Stärke und Macht, und so sah er bei weitem nicht so klein und alt aus, wie er war, sondern wahrhaftig von königlichem Kaliber und königlicher Haltung und Würde. Es war sein breiter massiver Oberkörper, der dieses Gefühl von Kraft vermittelt, dachte Gilgamesch. Dies und seine Augen, und diese Augen waren die bohrendsten, intensivsten Augen, die ihn jemals angeblickt hatten. Sogar noch durchdringender, als es die Augen des Zauberers Imbe Calandola gewesen waren. Bestürzende Augen waren das, dunkel, funkelnd, die Augen eines Habichts, eines Adlers — nein, es waren die Augen eines Gottes, mitleidlose, alles sehende Augen, die wie schwarze Edelsteine aus dem Gesicht lohten.

Mit Bestürzung begriff Gilgamesch, daß dieser seltsame kleine mächtige Mann der Geliebte seiner Mutter sein mußte; eine wahrlich beunruhigende Vorstellung.

Es war schon schwer genug gewesen, daß er sie als eine jugendliche, wunderschöne und, soweit er sah, fröhliche Frau wiedersah; noch tiefer traf es ihn, daß er in ihr nun eine Frau mit ganz irdischer Natur akzeptieren sollte, die mit Männern ins Bett stieg, mit diesem Mann, diesem alten kahlköpfigen Mann, der sie in die Arme nehmen durfte und dessen Hände die geheimen Stellen ihres Leibes erforschen durften, die nur Lugalbanda, der König, gekannt hatte…