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Du Tor, schalt er sich. Sie ist deine Mutter, aber sie ist auch ein Weib, und sie war Weib, bevor sie deine Mutter wurde. Sie war seit fünftausend Jahren nicht mehr mit Lugalbanda zusammen. Und hier an diesem Ort sind sowieso sämtliche Gelöbnisse obsolet. Hast du etwa erwartet, daß sie die ganzen fünftausend Jahre, die sie bisher hier zugebracht hat, keusch wie eine Nonne geblieben ist? Und glaubst du, sie hätte dies tun müssen?

Dennoch. Warum ausgerechnet dieser Mann? Dieser alte Mann, so klein, kaum noch ein Haar auf dem Schädel, mit einer Haut wie tief gefurchtes altes Leder…

»Man nennt mich Ruiz«, sagte der kleine Mann. »Sie ist deine Mutter? Gut. Du paßt zu ihr. Sie muß die Mutter von Giganten sein, diese Frau. Die Mutter von Göttern, was? Und du bist also der berühmte Gilgamesch. Mucho gusto en conocerlo, Senhor Gilgamesch.« Ruiz lächelte ihn breit und offen an und streckte ihm ungeniert die Hand hin, als wären sie von gleichem Rang, als stünden sie einander Auge in Auge wie zwei Giganten gegenüber. Der Mann war der gewaltigste kleine Mann, dem Gilgamesch jemals begegnet war.

Beim Klang der Stimme und als er die Hand des Mannes berührte, begann Gilgamesch zu verstehen, weshalb seine Mutter diesen Mann erwählt hatte, oder genauer, warum sie sich von ihm hatte erwählen lassen. Die Wahl schien dabei von keinerlei Bedeutung zu sein. Der Mann war unwiderstehlich, eine Naturkraft, ein Fluß, der unaufhaltsam der See zuströmte.

»Pablo ist Künstler«, sagte Ninsun. »Maler, ein Bildermacher. Er macht gerade ein Bild von mir.« Sie lachte leise. »Er will es mich nicht ansehen lassen. Aber ich weiß, es wird ein sehr bedeutendes Bild.«

»Es gibt Schwierigkeiten«, sagte Ruiz. »Aber ich werde mit ihnen fertig werden. Deine Mutter ist etwas Außergewöhnliches — ihr Gesicht, ihre Ausstrahlung… Ich will ein Bild von ihr malen, das so gut ist, daß es der Teufel höchstpersönlich wird kaufen wollen. Aber ich werde es ihm nicht verkaufen! Und nach ihrem Bild — das deine, was meinst du dazu, Gilgamesch?«

»Mein Bild?«

»Ich möchte dich als Modell. Ich werde dir eine Maske aufsetzen, einen Stierkopf, und du wirst mein Minotauros sein. Der grandioseste Minotauros aller Zeiten, das authentische echte Menschentier, das Geschöpf im Labyrinth. Nun? Was sagst du dazu, Gilgamesch Na? Du gefällst mir. Weißt du was, am kommenden Sonntag, el domingo que viene, haben wir hier in Uruk einen Stierkampf, ja? La corrida. Ja? Du weißt, was das ist, ein Stierkampf?«

»Ja, ich weiß, was das ist«, sagte Gilgamesch.

»Schön. Natürlich weißt du es. Du sollst an dem Tag neben mir sitzen. Wir zwei werden uns die Feinheiten anschauen. Wie findest du das? Ein Ehrenplatz an meiner Seite.« Die Augen des erstaunlichen kleinen Mannes funkelten. »Und morgen kommst du in mein Atelier, und wir fangen mit den Stellungen an, ja? Wir müssen sofort beginnen. Mein Bild wird dich berühmt machen.«

»Er ist auch jetzt schon berühmt und groß«, sagte Ninsun gelassen.

»Por supuesto! Selbstverständlich. Er ist ein König, er ist eine Legende, wir alle wissen das. Doch es gibt Größe und Größe, nicht wahr, Gilgamesch? Du wirst mein Minotauros. Ja? Der Sohn des Minos, aber nicht wirklich sein Sohn, sondern en realidad, in Wahrheit, der Sohn des Stieres aus der See, der — denke ich — der Poseidon war. Na? Wirst du mir Modell stehen?«

Es war kaum eine Bitte. Gilgamesch begriff, daß dieser Mann eine Bitte nicht als solche auffaßte, sondern als einen Befehl. Die eigenartige Dringlichkeit, dieses Verlangen, ihn zu malen, war amüsant und in ihrer Art geradezu unwiderstehlich. Bloß ein Maler, ein Handwerker, ein Wändedekorierer, mehr war der Mann nicht, und dennoch glaubte er, daß es von höchster Wichtigkeit sei, daß er ein Bild von Gilgamesch in einer Stiermaske anfertigte. Nun, möglicherweise war das ja so. Es war jedenfalls ebenso wichtig wie alles andere, das hier geschah. Verblüfft stellte Gilgamesch fest, daß er den kleinen Mann mochte, daß er sogar Achtung für ihn empfand. Er spürte in sich nicht einmal Groll gegen ihn, weil er sich Ninsans bemächtigt hatte, wie dies offenbar der Fall war. Er fühlte in sich eine innerliche Verwandtschaft zu ihm, eine Nähe, wie er sie zu kaum sonst jemandem unter den Später Toten verspürt hatte. Dieser Ruiz war jemand aus einer älteren Zeit, sogar noch vor der Zeit von Gilgamesch selbst, einer Zeit, in der die Abstände und Unterschiede zwischen Göttern und Menschen noch nicht so gewaltig waren, wie sie es später wurden. Der Mann besaß unbedingt die Qualitäten eines Halbgottes. So etwas sah man auf den ersten Blick.

»Ja«, sagte Gilgamesch also. »Ich werde dir Modell sein, Ruiz. Ich komme morgen zu dir, ja?«

Und dann sagte Dumuzi: »So, jetzt setzt euch alle! Jetzt wollen wir den Wein trinken und essen!«

15

Es war die Stunde des ersten Frühlichts. Sie hatten die ganze Nacht lang durchgezecht. Simon Magus hing schnarchend in seinem Sessel. Der alte Zauberer war das ganze Festbankett hindurch unruhig und gelangweilt gewesen und hatte sich irgendwie vernachlässigt gefühlt und fehl am Platze. Herodes hockte über seiner Flasche goldenen Weins, es war noch dieselbe Flasche, an der er bereits den halben Abend lang genippt hatte; er wirkte zerfranst und abgeschlafft, am Ende seines Durchhaltevermögens, doch fest entschlossen, durchzuhalten. Er war in ein ernsthaftes Gespräch vertieft mit einem mageren dunklen Mann mit gewaltigem Bart in einem weißen weiten Gewand. Und Dumuzi, der verquollene Augen hatte und ganz bleich war, schien sich ebenfalls sichtlich gegen das Einschlafen zu wehren, obwohl ihm immer wieder der Kopf vornüber sank, Ninsun, gegenüber, sah müde aus, hielt sich aber tapfer, und der kleine alte Mann Ruiz an ihrer Seite zeigte keinerlei Anzeichen von Müdigkeit; seine Augen waren noch immer funkelnd-scharf, und er bekritzelte die Tischdecke, benutzte Teller, jede glatte Oberfläche für Dutzende von Zeichnungen.

Vy-otin, der sich in seiner scharfgebügelten makellosen Spättoten-Kleidung zweifellos entsetzlich unwohl fühlte, trat zu Gilgamesch und sagte leise: »Komm, verschwinden wir hier und gehen wir ein paar Schritte. Die Luft draußen ist frischer, und ich muß dir einiges sagen. Dir vielleicht ein paar Ratschläge geben.«

»Klar, sicher«, sagte Gilgamesch.

Er stand auf, verneigte sich vor Dumuzi — es kam ihn ziemlich hart an, seinen Stolz zu überwinden und sich vor dem Kerl zu neigen und um die Erlaubnis zu bitten, sich vom Tisch zu entfernen. Der König wedelte schwächlich mit der Hand. Dann gingen er und der Häuptling der Eisjäger durch die hohe Festhalle zu dem fernen Ausgang.

Im frühen Morgenlicht hatte alles einen rötlichen Schimmer. Die Sonne hing tief am Firmament, ein fetter aufgeblähter Kloß, als würde sie bis zum Mittag brauchen, um bis zu den Gipfelspitzen der Berge der Nachwelt zu klimmen.

Gilgamesch sagte: »Wie friedlich ist es doch um diese Stunde. Sogar hier in der Nachwelt findet man ab und zu Frieden.«

Das windgegerbte Gesicht Vy-otins erstarrte, das eine Auge funkelte scharf. »Frieden? Anderwärts vielleicht, aber nicht hier. Der einzige Frieden, den du hier in Uruk finden wirst, ist der Frieden des Todes. Hau ab aus dieser Stadt, alter Freund, so rasch es geht!«

»Aber ich bin doch gerade erst angekommen, Vy-otin. Es würde einfach von schlechten Manieren zeugen, wenn ich so rasch wieder abreiste.«

»Schön, dann bleib hier. Aber nur, wenn dir dein derzeitiges Leben eine Last ist.«

»Du denkst, ich bin hier in Gefahr?«

»Sag du mir das eine, und was du mir sagen wirst, es soll verschwiegen sein zwischen uns nach unserem uralten Bruderschwur: Bist du nach Uruk gekommen, um den Thron zurückzugewinnen, Gilgamesch?«

Bestürzt blieb dieser stehen. »Ja, glaubst du denn, daß ich deswegen hier bin?«

»Dumuzi glaubt es.«