Выбрать главу

»Ach? Wirklich? Er steckte schon immer voller Angst.«

»Und er wird dich ermorden lassen, wenn du hierbleibst«, sagte Vy-otin.

»Er wird es versuchen, ja. Damit rechne ich. Aber er wird feststellen, daß es nicht so leicht ist, mich zu beseitigen.«

»Er ist König in der Stadt, Gilgamesch.«

»Und ich, ich bin Gilgamesch. Ich werde hier verweilen, solange es mir beliebt. Niemand von sumerischem Blut wird es wagen, die Hand wider mich zu erheben.«

»Aber nicht alle in Uruk sind Sumerer«, sagte Vy-otin. »Höchstens einer unter zehnen ist es, vielleicht. Es gibt viele hier, die sich gern mit dem Ruhm schmücken möchten, den berühmten Gilgamesch erschlagen zu haben. Dumuzi wird keinen Mangel an Mordbuben haben.«

»Sollen sie kommen, ich kann mich verteidigen.«

»Zweifellos. Aber dann ist es doch wahr, daß du gekommen bist, um ihm den Thron zu nehmen?«

»Nein!« sagte Gilgamesch grimmig. »Weshalb unterstellt ihr mir alle so etwas? Ich will weder seinen Thron noch irgendeinen anderen. Glaube mir, Vy-otin, mir ist die Lust auf Macht schon vor langer Zeit abhanden gekommen. Und das ist die reine Wahrheit. Glaub mir. So glaub mir doch!«

Vy-otin lachte. »In einem Atemzug verlangst du gleich dreimal, daß ich dir glauben soll. Ich fand immer, daß nur jemand, der an seinen eigenen Worten zweifelt, so heftig fordert, daß man ihm glaube.«

Das traf Gilgamesch hart, und er warf dem Eisjäger einen wütenden Blick zu. »Du glaubst also, ich belüge dich?«

»Ich denke, du belügst dich vielleicht selbst.«

»Ach was!« Gilgameschs Hände zuckten. Er fühlte, wie die Wut in ihm hochwallte — und sich wieder legte. Er sagte lange nichts und zwang sich völlig reglos dazustehen. Dann sprach er: »Jeden anderen, Vy-otin, hätte ich wegen solcher Worte niedergeschlagen. Dich nicht. Nein, dich nicht.« Er wurde wieder ruhig und sagte dann mit ganz leiser Stimme: »Ich will dir die Wahrheit bekennen: Ich kenne meine eigene Seele nicht mehr! Ich sage mir, daß ich Macht scheue, Ehrsucht verabscheue und nur Verachtung für jene übrig habe, die in diesem Land der Nachwelt nach Vorzügen streben. Und dennoch, dennoch, Vy-otin, es gibt Momente, wo ich das alte Feuer in mir aufflammen fühle und erkenne, daß ich nicht so sehr anders bin als andere Männer, wie ich mir das gern vorstelle, daß auch mich dieser gleiche eitle Zwang antreibt, auf den Gipfel zu gelangen.« Er schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit ist, ich bin mir nicht länger sicher, was ich will. Möglich, daß Dumuzi wirklich einigen Grund hat, mich zu fürchten. Aber ich sage es zu dir, Vy-otin, ich hatte einen anderen Grund, nach Uruk zu kommen. Jedenfalls nicht, um mich hier auf den Thron zu setzen.«

»Und was ist das für ein Grund?«

»Von einem Magier in der Stadt Brasil erfuhr ich, daß Enkidu vielleicht hier weilt. Mein liebster Freund, der Bruder meines Herzens, von dem ich viel zu oft und viel zu lange getrennt gewesen bin.«

»Ja, ich erinnere mich an Enkidu. Ein gewaltiger, von Haaren bedeckter Mann, ungestüm wie ein wilder Stier.«

»Ich bin hergekommen, um ihn hier zu suchen. Weiter nichts. Und das ist die Wahrheit. Ich schwöre dir, es ist die Wahrheit. Soweit ich sie kenne.«

»Und weißt du mit Bestimmtheit, daß er sich hier in Uruk aufhält?«

»Nein. Nur durch eine Vision, die ein schwarzer Magier mit seinen Künsten in mir hervorgebracht hat. Doch ich glaube nun eben, es ist eine wahre Vision.«

»Dann wünsche ich dir, daß du Erfolg hast in deiner Suche und auch sonst alles erdenkliche Glück.« Vy-otin ergriff Gilgamesch an beiden Händen und drückte sie fest. »Bei den Hörnern des Gottes, ich will dir auf jede mir mögliche Weise helfen! Doch sei auf der Hut in dieser Stadt, Gilgamesch! Dumuzi ist gerissen und hinterhältig, und er haßt dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Er würde dich mit Wonne tausendfach in die Nachwelt schicken, wenn du nicht bereits hier wärst.«

»Ich werde mich vor ihm hüten«, versprach Gilgamesch. »Ich kenne seine Methoden aus der anderen Welt.«

Dann schritten sie lange auf und ab, ohne daß einer von ihnen etwas sprach. Das trübe Licht der Sonne verstärkte sich und kroch den Himmel hinauf, und der frühe Morgen erwärmte sich. In den Häusern und Geschäften der Stadt Uruk erwachte das Leben.

Nach einiger Zeit sagte Gilgamesch: »Lieber Freund, du hast mir nicht gesagt, weshalb du diese absurde Verkleidung trägst.«

»Ach, ich habe mich daran gewöhnt und mag sie sogar«, antwortete Vy-otin leichthin.

»Möglich. Aber es ist schon ein komisches Kostüm für einen, der von den Anfängen der Zeit kommt.«

»Wirke ich auf dich dermaßen alt, Gilgamesch? Denk doch an die Haarmenschen, die fast wie Affen aussehen. Sie sind wirklich aus uralter Zeit. Wer weiß, wann die gelebt haben? Es muß schon sehr lange her sein, denn sie sind so gar nicht wie wir, auch wenn sie uns sagen, sie sind unsere Vettern. Meine Zeit lag nur zehntausend Jahre vor der deinigen. Na, vielleicht auch fünfzehntausend, wer kann das schon so genau sagen. Aber ich bin ein Mensch — wie du.«

»Aber zehntausend Jahre sind kein Klacks, kein Räuspern, Vy-otin. Deine Zeit war lang vor der meinen. Über die Haarmenschen kann ich dir nichts sagen. Aber du stammst aus einer Welt, die ich nie gekannt habe, und sie war lange vor meiner Welt. Das war doch schon vor der Großen Flut!«

»Wenn du es so sagen willst.« Vy-otin zuckte die Achseln. »Kann sein. Ich habe keine Ahnung von deiner Flut. In meiner Zeit lag die Welt tief im Eis. Die Sonne war hell, die Luft war kalt, der Wind schnitt wie ein Messer. Die großen zottigen Tiere zogen über das Land. Es war die allergrößte aller Zeiten, Gilgamesch. Wir waren nicht sehr viele, weißt du, doch wir waren großartig! Du hättest uns sehen müssen, wenn wir auf die Jagd zogen und wie Geister durch die dunklen blattlosen Bäume streiften! Bei den Hörnern, ich wünschte, du wärst damals mit uns gewesen!« Und mit veränderter, dunklerer Stimme setzte er hinzu: »Ich wollte, ich wäre noch dort.«

»Du hast mir das alles so geschildert, als wäre es noch immer wahr, diese Zeit des Eises und der gewaltigen Tiere, damals in deinem Palast im Norden«, sagte Gilgamesch. »Und da lagerten die gewaltigen Hauerzähne auf dem Boden, und an den Wänden hingen die zottigen Häute, und dein Volk scharte sich um dich. Ich erinnere mich noch sehr gut, obwohl es schon sehr lange her ist, daß ich dort mit dir zusammen war. Warum bist du fortgegangen?«

»Du warst einmal König in dieser Stadt hier. Warum bist du fortgegangen?«

»Wie könnte ich das sagen? Wir treiben in der Nachwelt umher, ohne das Geringste zu verstehen. Ich war in diesem Uruk, und dann war ich nicht in Uruk, und ich erinnerte mich an nichts von Uruk. Vielleicht wurde ich niedergeschlagen und wachte anderwärts auf. Vielleicht in Nova Roma oder einer anderen weit entfernten Stadt. Ich kann mich nicht daran erinnern. Es hätte alles geschehen sein können. Ich kann nur sagen, ich war hier und auf einmal war ich nicht mehr hier. Die Erinnerung daran, wie und weshalb ich fortzog, ist aus meinem Gedächtnis gestohlen worden.«

»Bei mir ist das anders«, sagte Vy-otin. »Ich wurde getötet. Ein blödsinniger Streit, ein paar betrunkene Ägypter — ich beging den Fehler, dazwischengehen zu wollen. Es war das übliche. Ich trat in die Finsternis, die zwischen den Leben kommt, und ich war tausend oder vielleicht zweitausend Jahre lang weg, und als ich zurückkam, war ich an einem ganz anderen Ort, weit weg von allem, was ich gekannt habe. Kennst du die Stadt Dis, Gilgamesch?«

»Dis? Nein.«

»Am anderen Ufer des Weißen Meeres.«

»Ich habe nicht gewußt, daß es da drüben überhaupt etwas gibt am anderen Ufer.«

»Die Nachwelt ist unbestimmt, meine Freund, und ohne Grenzen. Ich lebte eine lange Zeit in Dis, dann überquerte ich das Meer, und nun bin ich in Uruk. Mein Volk hat sich zerstreut, und keiner erinnert sich noch an das Schloß im Norden. Alles verändert sich, Gilgamesch, und nicht zum Besseren.«