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»Und du hast dich in der Stadt Dis dazu entschlossen, dich wie ein Später Toter zu kleiden? Warum?«

»Damit sie nicht merkten, daß ich prähistorisch bin; denn so haben sie mich bezeichnet — vorgeschichtlich, als wäre ich irgendein Tier.«

»Sie? Wer?«

»Die Gelehrten«, sagte Vy-otin. »Die Philosophen. Die Archäologen. Die dumpfdummen langweiligen neugierigen Spätlinge. Ich will dir berichten, was geschehen ist. In Dis geriet ich an einen dieser Später Toten, kurzbeinig und häßlich, aber stark, sehr stark. Ein Musiker, Wagner war sein Name. Und da war sein Freund, der Nietzsche hieß, sofern du das als Namen gelten lassen willst, und da war noch einer, ein Jude wie dein Freund Herodes, aber älter, mit einem weißen Bart und scharfen durchdringenden Augen. Der hieß Freud. Und wir vier saßen zusammen und tranken die ganze Nacht lang, genau wie wir das heute taten, und als die Morgendämmerung heraufzog, fragten sie mich nach meinem Namen, und so sagte ich ihnen, ich heiße Vy-otin und sei von dem alten Volk der Eisjäger, habe in der kalten Zeit in einer Höhle gelebt, und mein Auge habe ich bei einem Kampf mit einem Schneetiger verloren. Und ich erzählte ihnen noch das eine und andere mehr aus meinem ersten Leben. Und da brüllte auf einmal dieser Mann Wagner: Wotan! Du bist Wotan! Und der Nietzsche hieß, der sagte: Ja, er ist es in Person. Und der alte Mann Freud begann zu lachen und sagte, daß das durchaus möglich sei, da es außer Zweifel stehe, daß der Mythos aus einer Realität erwächst, und ich deshalb durchaus der fleischgewordene Mythos sein könnte.«

»Es fällt mir schwer, dir zu folgen«, sagte Gilgamesch.

»Also, dieser Wotan, der auch Odin genannt wird, war ein Gott, lange nach meiner und deiner Zeit, ein einäugiger Gott in den kalten Nordlanden. Und die drei waren überzeugt, daß ich das Modell bin, nach dem dieser uralte Odin oder Wotan geschaffen wurde. Verstehst du? Daß ich in den Jahren nach meinem Tod immer mehr zur Legende wurde, zum klugen einäugigen König im Schneeland, und dann begannen mich die Leute im Norden im Verlauf von Tausenden von Jahren als Göttervater zu verehren.«

»Und wenn das so ist? Die Zeit hat viele Könige und Krieger zu Göttern gemacht. Was bedeutet dir das schon? Wieso sollte es dich bekümmern?«

»Aber diese drei närrischen Männer hüpften vor Freude bei dem Gedanken, daß sie mit dem Original eines großen Mythos an einem Tisch saßen. Für sie war das eine tolle Sache, aber wo blieb ich, mein wirkliches Selbst, das jetzt da saß und lebte? Mich fegte das einfach weg, Gilgamesch, es raubte mir alles, was meine Wirklichkeit war. Ich sagte ihnen, ich bin kein Mythos, sondern der, der ich bin, aber das wischten sie einfach beiseite. Wer ich bin, bedeutete ihnen überhaupt nichts. Sie fanden mich kurios, ich war ein Primitiver für sie, ein Wilder. Ein Tier. Ich glaube, sie waren erstaunt, daß ich überhaupt sprechen konnte. Was sie erregte, war ich in ihrer Vorstellung, der Archetyp, sonst nichts. So nannten sie mich: der Archetyp. Ich fragte, was das ist, ein Archetyp, und sie erklärten es mir stundenlang, wo ein Satz genügt hätte. Es bedeutet das Original. Ich bin er erste, originale, echte Wotan, sofern man den drei Leuten da glauben kann. Alle großen Mythen, sagten sie, kommen aus der vorgeschichtlichen Menschheitsdämmerung herüber, sagten sie, und da sitze nun ein Mann direkt aus diesem Dunkel leibhaftig mit ihnen an einem Tisch in einer Kneipe. Und davon bekamen sie ein hitziges Hirnfieber und wurden ganz verrückt. Wotan! krächzte Wagner und wollte wissen, ob ich Töchter gehabt habe. Und Freud, der fragte, ob ich Söhne hätte. Und dieser Nietzsche, der wollte wissen, ob ich an Gott glaube… Ach, Gilgamesch, diese drei Typen! Einer hatte Opern über diesen Wotan geschrieben. Weißt du, was eine Oper ist? Gesinge und Lärm und Kostüme. Und der andere hatte philosophische Bücher geschrieben. Und der dritte behauptete, daß er mehr über die Lebenszustände in meiner Zeit wüßte als ich selbst. Alle drei sahen in mir nur eine Widerspiegelung von sich selbst. Und sie stellten mir zehnmal tausend Fragen, und sie holten andere herbei, die mich betrachten mußten, andere Wissenschaftler und Denker, und sie veranstalteten ein solches Getue und Ärgernis mit mir, daß ich ihnen gern mein einziges Auge drangegeben hätte, um meine Ruhe vor all diesen Klugscheißern zu haben. Bei der Mutter! Sie haben mich fast zum Wahnsinn getrieben! Am Ende floh ich vor ihnen. Ich bin kein Gott, Gilgamesch, und ich bin auch kein Archetyp. Ich bin nichts weiter als ein schlichter Mann aus dem Pleistozän und…«

»Dem was?«

»So nennen die Gelehrten die Zeit, in der ich lebte. Als noch alles vom Eis bedeckt war und die großen Zotteltiere noch lebten.« Vy-otin lachte. »Pleistozän. Du merkst es? Ihre törichten Bezeichnungen haben mich angesteckt. Prähistorisch. Glaubst du, daß wir uns für vor der Geschichte lebend gehalten haben, für Nicht-Geschehene hielten? Für bloße grunzende Tiermenschen? Nun, so war es nicht. Wir hatten Gedichte, wir hatten Musik. Wir hatten Götter. Sie nennen uns den Aurignac-Typ. Mir sagt das gar nichts. Archetyp.« Vy-otin schüttelte den Kopf. »Also bin ich geflohen und habe mich vor ihnen versteckt. Und nun heiße ich Henry Smith, und ich tue so, als wäre ich ein Später Toter, damit mir die Gelehrten nicht weiter auf die Nerven gehen können — diese wichtigtuerischen Eierköpfe und Weisheitsfurzer, die mir erzählen wollen, was ich bin. Sollen sie sich einen anderen als Studienobjekt suchen, der für sie das prähistorische Fossil und Aurignac und Archetyp spielt.«

»Du siehst aber nicht aus wie ein Später Toter, Vy-otin.«

»Nicht?«

Gilgamesch lächelte. »Nicht für mich. Für mich siehst du aus wie ein einäugiger Eisjägerhäuptling, der sich als Spättoter verkleidet hat. Ein Barbar wie ich selbst. Du siehst aus wie aus dem — Pleistozän. Wie ein — wie war das Wort? — ein Aurignac-Mensch. Eindeutig aus dem Aurignac. Ein Archetyp, Vy-otin. Habe ich die Wörter korrekt ausgesprochen?«

Auch Vy-otin lächelte nun, doch ohne Heiterkeit. »Mag das sein, wie es will«, sagte er, ein wenig gereizt. »Ich spiele jedenfalls das Spiel dieser Leute nicht mit. Und wehe dir, mein Freund, solltest du eines Tages einem Haufen von Gelehrten in die Hände geraten. Sie werden dich peinigen und dir keine Ruhe lassen, und wenn sie mit dir fertig sind, weißt du nicht mehr genau, wie dein wirklicher Name lautet.«

»Schon möglich«, sagte Gilgamesch. »Im Outback bin ich einmal einem armen Verrückten von den Später Toten begegnet, der mich mit einem gewissen Conan verwechselte, irgend so einem alten Krieger, der sowas wie ein Mann aus dem Land der Kimmerier war, und der wollte mich anbeten oder noch Schlimmeres mit mir. Was für ein trauriger Tor der Mann war! Wahrscheinlich auch wieder so eine archetypische Sache, denke ich.«

»Sie sind alle solche Narren, diese modernen Männer«, sagte Vy-otin.

»Aber die Dummheit ist nicht erst gestern erfunden worden«, sagte Gilgamesch. »Wir hatten zu meiner Zeit davon auch schon einen ganzen Haufen. Und du wahrscheinlich auch.«

»Wahrhaftig«, gab Vy-otin zu.

Gilgamesch betrachtete seinen alten Freund nachdenklich, und auf einmal überkamen ihn Zweifel an seinen eigenen Göttern, dem Himmelsvater An und Enlil, dem Herrn der Stürme, und Enki, dem Barmherzigen, und all den übrigen. Waren auch sie einst nur Menschen gewesen — Krieger, Priester, Könige — und durch die Zeit hindurch und dank der blöden Leichtgläubigkeit der Menschen in derart ferne, erhabene Wesen umgeformt worden, in diese — Archetypen? Wenn er lange genug durch die Nachwelt zog, würde er dann die echten, die echten Urbilder, die Originale der Götter aus Sumer-dem-Land in einer Kaschemme versammelt finden, in der Stadt Dis, wo sie heftig zechten und herzlich lachten und sich Geschichten über die guten alten Zeiten vor der Flut erzählten?