»Und ein goischer kup?« fragte Gilgamesch.
Herodes wirkte überrascht. »Er? Nun je, möglich, schon möglich. Aber trotzdem ein Genie. Wenigstens macht er aus seinen Stierkämpfen großartige Bilder. Und jeder Mensch hat das Recht auf sein besonderes Hobby, denke ich. Sogar auf eine fixe Idee.«
»Und was ist es bei dir?« fragte Gilgamesch.
Herodes kniff ein Auge zu. »Überleben.«
16
Es war eine von jenen Nächten, die im Nu verflogen, wie in einem Augenblick. Das geschah oft in der Nachwelt, doch zum Ausgleich gab es Tage, die eine, zwei Wochen, ja einen Monat zu dauern schienen. Gilgamesch war nun schon so lange hier, daß er diese kleineren Unregelmäßigkeiten kaum noch bemerkte. Er vermochte sich noch deutlich zu erinnern, wie das auf der Erde gewesen war, wo die Tage in vorhersehbaren Zeitintervallen aufeinander folgten. Doch hier kam ihm das nun unwirklich vor und schmerzlich bedrückend. Schlaf bedeutete hier wenig, Mahlzeiten waren bedeutungslos, weshalb also sollten die Tage gleich lang sein? Was machte es schon aus?
Und nun war nach allgemeiner Übereinkunft Sonntag. Der Tag des Stierkampfes. Auch der Kalender flatterte und sprang ohne Sinn und Verstand her und hin. Aber die Corrida sollte am Sonntag stattfinden, und da sie heute stattfand, war demzufolge Sonntag. Morgen konnte ein Donnerstag sein. Was machte es schon? Heute war der Tag, an dem er mit Enkidu wiedervereint sein würde, wenn alles gut verlief. Das war es, was zählte.
Die Nacht, so kurz sie war, bekam ein besonderes Glanzlicht aufgesteckt durch einen zweiten Mordanschlag gegen Gilgamesch. Diesmal nicht grob und direkt durch einen Schlägertrupp, aber dennoch ziemlich einfältig geplant: die alte abgedroschene Methode mit der Schlange im Lüftungsschacht. Das Gitter, entdeckte er, war losgemacht worden, möglicherweise von einem Zimmermädchen, das das Bett aufdecken sollte. Er hörte ein gleitendes Schaben hinter der Wand.
Er stieß das Gitter ganz auf und trat mit gezogenem Schwert schlagbereit seitlich daneben. Es war eine ganz prachtvolle Schlange, schwarz und schimmernd und mit grellroter Zeichnung und gelben Feueraugen. Die Zähne blitzten wie Chromstahl. Gilgamesch bedauerte, daß er sie in zwei Stucke hauen mußte, doch was blieb ihm anderes übrig? Hätte er sie in ein Bettlaken verpacken und den Zimmerkellner rufen sollen, damit der sie wegbrachte?
Die gleichen Motorkutschen, die ihn und seine Begleiter vor etlichen Nächten zur Festhalle des Königs gefahren hatten, warteten an diesem Morgen draußen, um sie zur Kampfstätte zu bringen. Anscheinend war der Stierkampf der Höhepunkt der Saison in Uruk: Die halbe Stadt schien daran teilzunehmen, wenn man nach der Zahl der Fahrzeuge ging, die in Richtung der Arena fuhren.
Herodes saß bei Gilgamesch. Der Lenker war ein Sumerer, der vor ihm aufs Knie fiel und den zitternde Ehrfurcht schüttelte; kein Mordbube, der Mann, außer er war einer der besten Schauspieler in der Nachwelt.
Der Stierkampf fand ziemlich weit vor den Mauern statt, in den Sandhügeln im Osten. Der Tag war heiß und wolkenverhangen. Etliche langschnäuzige Flugdämonen mit Fledermausschwingen, purpurn und rot und grün, trieben träge im dunstigen Himmel.
Herodes kam nahe an Gilgamesch heran und sagte mit gedämpfter Stimme: »Es ist alles arrangiert.« Sie waren schon nahe am Stadion. Gilgamesch konnte den Bau sehen, die zahlreichen Steinarkaden übereinander, die sich aus der flachen Wüste erhoben. »Tukulti-Shar-rukin will versuchen, Enkidu aus dem Gefängnis zu befreien, genau dann, wenn der Kampf anfängt. Wir haben in der Nähe ein halbes Dutzend von Simons Leuten postiert und drei der Landrover. Jeder weiß, was er zu tun hat. Sobald Enkidu aus dem Gebäude kommt, steigt er in einen der Rover, und alle drei fahren in verschiedene Richtungen los, aber alle kommen sie hierher.«
»Und Vy-otin?«
»Du meinst Smith.«
»Natürlich, Smith.«
»Der wartet direkt vor der Arena, wie du es gewollt hast. Sobald die Landrover auftauchen, tritt Smith zu dem mit Enkidu und bringt dann diesen herein und direkt zu der Loge, in der du und Picasso sitzen werdet. Die liegt gleich neben der Königsloge. Dumuzi wird der Schlag treffen, wenn er ihn sieht.«
»Wenn nicht bei seinem Anblick, dann bestimmt, wenn er sieht, wie ich Enkidu vor der gesamten Stadtbevölkerung in die Arme schließe«, sagte Gilgamesch. »Der Held Gilgamesch wieder vereint mit seinem geliebten Enkidu! Was könnte Dumuzi dazu sagen? Was könnte er tun? Alle werden jubeln. Und nach dem Stierkampf…«
»Ja?« fragte Herodes. »Danach, was?«
»Werde ich König Dumuzi meine Visite abstatten«, sagte Gilgamesch. »Ich werde zu ihm von diesem bedauerlichen Irrtum sprechen, der seine Beamten dazu veranlaßte, meinen Freund in Haft zu nehmen. Ich werde das sehr höflich erledigen. Möglicherweise spreche ich mit ihm auch über den betrüblichen Mangel an Sicherheit und Polizeischutz in den Straßen seiner Stadt und über die ärgerliche schlampige Wartung der Belüftungssysteme in seiner Staatsherberge. Doch das kommt später. Zuerst wollen wir uns das Vergnügen dieses Stierkampf-Schauspiels gönnen, nicht?«
»Ja.« Herodes klang sehr bedrückt. »Der Stierkampf.«
»Du siehst nicht gerade begeistert drein.«
»Ich bin noch nicht einmal gern zu den Gladiatorenkämpfen gegangen. Und die verdienten immerhin, was sie miteinander anstellen. Aber so ein armer dummer unschuldiger Stier? Dieses Blutvergießen diese ganze Qual!«
»Der Stierkampf ist eine Kunst«, erwiderte Gilgamesch. »Dein großes Genie, der Maler Picasso, hat mir das selber gesagt. Und du, Herodes, du bist doch ein Mann von Kultur. Betrachte es doch einfach als ein Kulturerlebnis.«
»Ich bin ein jüdischer Liberaler, Gilgamesch. Ich kann bei Tierquälerei keine Freude empfinden.«
»Ein jüdischer was?«
»Ach, unwichtig«, sagte Herodes.
Der Wagen glitt auf einen Parkplatz vor dem Stadion. Aus der Nähe wirkte der Bau gigantisch, wie ein echtes überdimensionales römisches Amphitheater, mit fünf Rängen übereinander. Das oberste Geschoß war zum Teil zerfallen, zahlreiche der großen Steinbögen waren eingestürzt, doch der restliche Bau wirkte fest und stabil und grandios. In jedem Stockwerk wanderten Massen von Menschen in bunter Festkleidung umher.
Als Gilgamesch aus dem Wagen stieg, erblickte er Vy-otin/Smith in langen Hosen und einem losen kurzärmeligen Hemd, der ihm aus der Nähe eines Kartenschalters zuwinkte. Der langbeinige Häuptling der Eisjäger hob sich deutlich ab gegen die restlichen kleineren, plumpen vorwiegend sumerischen Massen, die sich ringsum drängelten.
Er kam sofort herüber. »Es gibt Ärger«, sagte er.
»Enkidu?«
»Nein, du«, sagte Vy-otin. »Einer von meinen Männern hat in der Toilette etwas aufgeschnappt. Dumuzi hat auf dem obersten Rang Scharfschützen postiert. Und wenn es aufregend wird und die Masse brüllt, sollen die das Feuer auf die Loge von Picasso eröffnen. Du bist das Hauptziel, aber es ist wahrscheinlich, daß sie dabei auch Picasso treffen und deine Mutter und jeden, der sonst in eurer Nähe sitzt. Du mußt hier abhauen!«
»Nein! Das ist unmöglich!«
»Bist du wahnsinnig? Wie willst du dich gegen Schüsse von oben schützen? Bei deiner Größe bist du doch das leichteste Ziel der Welt!«
»Wieviele Leute hast du hier?« fragte Gilgamesch.
»Neun.«
»Das sollte doch reichen. Schicke sie nach oben, sie sollen die Scharfschützen ausschalten.«
»Es bleibt aber dennoch das Risiko, daß…«
»Ja, vielleicht. Wo ist dein Kampfgeist geblieben, Vy-otin? Bist du schon völlig Henry Smith geworden? Dumuzi kann da droben keine hundert Scharfschützen postiert haben. Es werden zwei oder drei sein, schätze ich. Höchstens fünf. Ihr habt ausreichend Zeit, sie zu entdecken. Es dürfte nicht schwer sein. Es sind bestimmt keine Sumerer, und sie werden sich durch ihre Nervosität verraten, und außerdem werden sie Gewehre oder sonst irgendwelche von diesen Feiglingswaffen der Später Toten benutzen. Deine Männer werden sie einen nach dem andern festnageln und sie hinabstürzen. Das ist doch kein Problem.«