Vy-otin nickte. »Genau. Bis später dann.«
Picasso schloß die Augen und ließ die Erinnerungen in sich wieder aufquellen: das alte Leben, die thymiangeschwängerte trockene Sommerluft am Mittelmeer, die Hitze, die drängenden Menschenmassen, die Geräusche. Wenn er nicht hinsah, konnte er sich beinahe einbilden, daß er acht, neun Jahre alt sei, wieder neben seinem sandbärtigen Vater in der Arena in Malaga sitze, wo die Kämpfe die feinsten und elegantesten der ganzen Stierkampfwelt waren. Er skizzierte, schon damals zeichnete er unablässig, den Picador auf seinem kleinen dürren Klepper mit den verbundenen Augen; den nobel überheblichen Matador; den Bürgermeister in der Ehrenloge. Oder er konnte sich vorstellen, daß es die Arena von La Corunha sei, oder die in Barcelona, oder die in Arles — eine uralte römische Arena genau wie diese hier, die er jedes Jahr zu besuchen pflegte, als er alt geworden war — mit seiner Frau Jacqueline und mit seinem Sohn Paul, mit Sabartes.
Aber das lag alles weit zurück und in einer anderen Welt. Das hier war die Nachwelt, und der Himmel war neblig-düster und die Luft schwer und stechend, und das Volk um ihn herum schnatterte und kreischte englisch, griechisch, in irgendeinem mesopotamischen Kauderwelsch, in beinahe jeder erdenklichen Sprache, nur nicht in seinem guten alten ehrlichen Spanisch. Reglos saß er mitten in dem Getöse und wartete, die Hände an den Flanken, schweigend, einsam. Es hätte ebenso gut niemand ringsumher sein können. Er war sich bewußt, daß die Priesterfrau Ninsun an seiner Seite saß, prachtvoller als je, in einem dunkelpurpurnen Kleid, das mit Goldfäden durchwirkt war; auch daß ihr riesenhafter Sohn, Gilgamesch, neben ihm saß, und der getreue Sabartes und dieser kleine römische Judäer Herodes, und dieser andere Römer, der feiste alte Diktator Simon. Aber sie alle waren für ihn jetzt zu bloßen Gespenstern verblichen. Während er darauf wartete, daß die Corrida beginne, sah er nur noch die Arena, das Tor, hinter dem die Toros warteten, und die Schatten, die der bevorstehende Wettkampf vorauswarf.
»Es dauert nicht mehr lange, Don Pablo«, murmelte Sabartes. »Man hat nur auf den König gewartet. Aber, siehst du, jetzt sitzt er in seiner Loge. El Rey.« Sabertes deutete nach links zur Königsloge gleich nebenan. Mit einem flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel sah Picasso den blöde wirkenden König, wie er breit lächelnd der Menge zuwinkte, während seine Höflinge durch Handzeichen alle aufforderten, ihm zuzujubeln. Picasso nickte. Sicher, man mußte warten, bis der König erschienen war, ja. Aber er hatte keine Lust, noch länger zu warten. Er hatte sich extra formell gekleidet, trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und sogar eine Krawatte, schließlich war die Corrida eine ernste Angelegenheit und erforderte den gebührenden Respekt. Doch in dieser feuchten Hitze fühlte er sich alles andere als bequem. Wenn der Kampf erst einmal begonnen hatte, würde er das Klima nicht mehr wahrnehmen, nicht den Würgedruck an seinem Hals und auch nicht die klebrige Verschwitztheit auf seinem Rücken. Wenn sie doch endlich beginnen würden, dachte er. Wenn sie endlich anfingen!
Doch was war das? Eine erneute Verzögerung, eine Unterbrechung, eine Störung nebenan?
Der gewaltige Sumerer war aufgesprungen, tanzte herum und brüllte wie ein Wahnsinniger: »Enkidu! Enkidu!«
»Gilgamesch!« brüllte einer, der gerade in die Loge gekommen war, ein Kerl, genauso gigantisch groß, aber doppelt so erschreckend wie Gilgamesch, hatte sich hereingedrängt. »Mein geliebter wahrer Bruder! Mein Freund!«
Auch dieser Mann war ein Sumerer seinem Aussehen nach. Aber er wirkte fremdartig, zottig, fast wie ein wildes Tier, hatte etwas Loderndes an sich, schwarze Haare, die ihm über die Augen fielen und einen so dichten Bart, daß er fast das ganze Gesicht verdeckte. Noch ein Minotauros, dachte Picasso, und noch echter als der erste. Und jetzt stürzten die zwei sich aufeinander wie zwei Berge, Gilgamesch und dieser Enkidu. Und Gilgamesch war wie ein Kind in seiner Erregtheit. Er schlug Enkidu so kräftig auf den Rücken, daß es einen Drachen zu Boden gestreckt hätte, und dann zog er ihn hinüber und stellte ihn Ninsun vor, und Enkidu fiel wie anbetend vor ihr auf die Knie und küßte den Saum ihres Kleides, und dann wies Gilgamesch mit dem Kinn zu Dumuzis Loge, und die beiden Männer brachen in ein Lachen aus. »Und dies«, sagte dann Gilgamesch, »ist der Maler Picasso der ein gewaltiges Genie ist. Er malt wie ein Dämon. Vielleicht ist er auch ein Dämon. Aber er ist ein sehr großer Mann. Das heute ist sein Stierkampf.«
»Der kleine Mann? Er wird mit Stieren kämpfen?«
»Nein, er wird zuschauen«, sagte Gilgamesch. »Das liebt er mehr als alles andere, glaube ich, außer zu malen, dabei zu sein, wie sie mit den Stieren kämpfen. So, wie sie das in seiner Heimat taten.«
»Aber morgen«, sagte Picasso, »werde ich dich malen, Wilder Mann. Aber das ist morgen. Jetzt kommen erst die Stiere.« Und aus dem Mundwinkel fragte er Sabartes: »Also? Wann fangen die endlich an?«
»Ja, wahrhaftig, Don Pablo. Sofort. Jetzt, jetzt!« Es erfolgte ein grelles Trompetenschmettern. Und dann begann die große Einmarschparade: Die Cuadrillas kamen, angeführt von zwei Alguaciles zu Pferd und in augenbetörenden Kostümen. Alle durchquerten die weite Arena, die Banderilleros, die Picadores auf Dämonenpferden, die beinahe so aussahen wie die Pferde in der anderen Welt, nur daß sie hier rotglitzernde Augen und steife eidechsenhafte Schweife hatten. Und dann kam endlich der Matador, dieser Blasco y Velez, dieser Spanier aus den Tagen des Vierten Karls.
Er hat alles recht gut organisiert, der Sabartes, dachte Picasso. Es sah alles so aus, wie es sich gehört. Die Leute, das Staffagepersonal, bewegten sich mit Würde und Eleganz. Sie begriffen, was für ein grandioses Ereignis dies war. Auch der Matador sah vielversprechend aus. Er besaß Allüre. War zwar um die Leibesmitte etwas fülliger, als Picasso gehofft hatte — vielleicht war er ein bißchen außer Form geraten, oder vielleicht war der Stil unter dem Vierten Carlos ja anders und die Matadores waren da nicht ganz so schlank —, aber sein Kostüm stimmte, die hautengen Seidenhosen, die reichbestickte Jacke und die Seidenweste mit Gold- und Silberstickerei, die Kopfbedeckung, der Umhang, das spitzenbesetzte leinene Vorhemd.
Der Zug hielt vor den zwei Ehrenlogen. Der Matador salutierte vor dem König, dann vor Picasso, der an diesem Tag das Präsidium für den Stierkampf innehatte. Der König, der den plötzlich erschienenen Enkidu angestarrt hatte, als wäre dieser irgendein Spukdämon, der sich plötzlich in Picassos Loge materialisiert hatte, und dessen Gesicht nun verkniffen war und wie giftige Galle aussah, erwiderte die Ehrbezeigung mit einer beiläufigen Handbewegung, deren würdelose Unhöflichkeit Picasso in Wut versetzte. Er knirschte zwischen den Zähnen: »Puerco! Hijo de puta!«
Dann stand Picasso auf. Als Präsident der Corrida hielt er die Schlüssel zu den Ställen der Stiere in Händen. Und mit großer Geste warf er sie zu einem der Alguaciles hinab, der sie geschickt auffing und hinüberritt, um den ersten Stier in die Arena zu lassen.
»Also fangen wir an«, sagte Picasso leise zu Sabartes. »Alfin! Endlich geht es los!«
Er fühlte, wie er sich in jenen unverletzbaren Kokon von Konzentriertheit verschloß, der ihn stets bei der Corrida umgab. Gleich würde er das Gefühl haben, daß er ganz allein sei im Stadion.