Der Stier kam herangaloppiert.
Madre de dios! Was für eine Scheußlichkeit! Das war kein Stier, es war ein Ungeheuer!
Sabartes hatte ihm zwar gesagt, was er zu erwarten hatte, aber anscheinend war ihm das nie so ganz klar geworden. Das Her hätte aus einem seiner Bilder entsprungen sein können. Es besaß sechs Beine mit mehreren Gelenken wie ein Rieseninsekt, eine Doppelreihe schrecklicher Rückenwirbel, aus denen eine üble Flüssigkeit abgesondert wurde, und große Schlappohren. Die Haut war grün, mit purpurnen Flecken, und dick wie bei einem Reptil. Es hatte Hörner, kurz, gekrümmt, scharf, denen eines Stiers recht ähnlich, aber davon abgesehen, war es eine echte Ausgeburt der Hölle.
Picasso warf Sabartes einen Giftblick zu. »Was hast du da angerichtet? Sowas nennst du einen Stier?«
»Wir sind hier in der Nachwelt, Pablo«, sagte Sabartes schleppend. »Sie schicken keine Stiere in die Nachwelt, nur Menschen. Aber der da wird’s schon tun. In seiner Weise ist er ja so ziemlich wie ein Stier.«
»Chingada!« Picasso spuckte aus.
Aber drunten in der Arena unternahmen sie jetzt einen kühnen Versuch. Die Banderilleros umtanzten den ›Stier‹ und versuchten, ihre bändergeschmückten Lanzetten in seinen Nacken zu stoßen. Und ab und zu hatten sie Glück dabei. Der Höllenstier wurde nun gereizt und griff da und dort an, fuhr auf die Pferde der Picadores los; die Reiter wehrten ihn mit Stößen ihrer Spieße ab. Picasso erkannte, daß dies da unten Leute mit Erfahrung waren, die wußten, was sie taten und taten es möglichst gut, obwohl der Höllenstier sie sichtlich verwirrte. Sie versuchten ihn zu ermüden und für die Stunde der Wahrheit bereit zu machen, und im großen und ganzen gelang ihnen dies auch. Picasso fühlte, wie sich der Stierkampf um ihn schloß wie ein Mantel. Er war jetzt völlig davon vereinnahmt; er sah nichts als den Stier und die Männer in der Arena.
Dann schaute er zu dem Matador hin, der auf der Seite auf seinen Einsatz wartete, und plötzlich wurde alles schal und sauer.
Dieser Matador hatte Angst! Man konnte es an seinen Nasenflügeln erkennen, an der Stellung des Kinns. Vielleicht war er ja früher, zur Zeit des Vierten Karls, ein Meister in seiner Kunst gewesen, aber er hatte bestimmt nie mit so einer Bestie gekämpft, und deshalb würde er seine Sache verpatzen. Das war klar. Er würde es versauen.
Die Trompeten schmetterten. Der Augenblick war da.
Blasco y Velez trat vor, die muleta, das kleine rote Seidencape, und den capote, den weiten Arbeitsmantel, vor sich haltend. Doch er bewegte sich steif, und es war die falsche steife Gestelztheit der Furcht, nicht die abgezirkelte spröde Eleganz mutiger Kampfbereitschaft. Die Picadores und Banderilleros erkannten es, und anstatt die Arena zu verlassen, zogen sie sich auf die eine Seite zurück und tauschten besorgte Blicke miteinander. Und Picasso sah es. Und der Höllenstier erkannte es auch. Der Matador bewegte sich linkisch und zögernd. Er schien nicht zu wissen, wie er mit seinen Gapas umgehen mußte — war denn zu Zeiten des Vierten Karl die Kunst noch nicht so weit gediehen gewesen? Und dem Mann fehlte es an Grazie, er bewegte sich mit kurzen trippelnden Schrittchen. Er führte den Stier im Bogen um sich herum, ließ ihn näher und näher an sich herankommen, aber das hätte in Schönheit geschehen sollen. So wie jetzt war es nur einfach deprimierend.
»Nein!« zischte Picasso zwischen den Zähnen. »Schafft den Kerl raus!«
»Aber, Pablo, er ist unser einziger Matador«, sagte Sabartes.
»Er wird sterben. Dumm und unwürdig.«
»Gestern, als ich ihn sah, hat er sich besser gehalten. Aber das war mit einem noveno, einem Jungtier.«
Picasso stöhnte. »Er stirbt jetzt. Schau!«
In der Arena hatten sich die Gewichtungen verändert. Blasco y Velez tanzte nicht mehr mit dem Stier, der Stier führte ihn. Herum und herum, herum und herum — und der Stier wirkte nun überhaupt nicht mehr wütend, sondern belustigt, spielte mit dem Mann, umtanzte ihn, immer schneller — die Picadores versuchten einzugreifen, Blasco y Velez wich zurück, versuchte aber endlich, sich tapfer zu zeigen, versuchte es mit einer verzweifelten veronica, einem farol, einer mariposa, einer serpentina, einer media-veronica — doch ja, ja, der Mann verstand etwas von seiner Kunst, abgesehen davon, daß er alles gleichzeitig zu bringen versuchte, und wo blieb seine Kontrolle, wo blieb das Moment der Stille, wo seine Kunst? Der Stier schoß schnaubend an ihm vorbei und schlitzte ihm die Schulter auf. Blut floß. Blasco y Velez sprang zurück und griff nach seinem Degen — es war regelwidrig, diesen zur bloßen Selbstverteidigung einzusetzen —, doch der Stier wirbelte ihn ihm mit einem verächtlichen Drehen des Kopfes aus der Hand, schoß an ihm vorbei, rammte einem Picador das Pferd unterm Sattel zu Boden, rammte die Hörner hinein und raste dann wieder auf den Matador zu…
»Nein!« brüllte der zottige Gilgamesch-Freund, der riesenhafte Enkidu.
Und dann schwang er sich von der Steinbank über die Brüstung in die Arena.
»Enkidu!« schrie Gilgamesch.
Picasso keuchte erregt. Jetzt wurde es irre. Die Sache schlug um und wurde ein Schreckenstraum. Der große Sumerer hob den glücklosen Matador wie eine Puppe hoch und warf ihn beiseite und in Sicherheit. Dann ging er den Stier an, faßte ihn an den Doppelknorpeln des Rückgrats, schwang sich auf den Nacken der Bestie und begann sie zu würgen.
»Nein, nein, nein!« brummte Picasso. »Tölpel! Metzger! Sabartes, sorg dafür, daß dieser Blödsinn ein Ende hat! Was treibt der denn? Reitet auf dem Stier? Erwürgt den Stier?« Tränen der Wut trübten ihm die Augen. Seine erste Corrida seit unendlich langer Zeit, wer weiß, seit wann, und sie war von Beginn an eine gräßliche Scheußlichkeit gewesen und nun verwandelte sie sich zu einem irren Chaos! Er war aufgesprungen, auf seinen Sitz gestiegen und brüllte: »Metzelei! Wahnsinn! Eine Schande! Eine Schande!«
Enkidu steckte in Schwierigkeiten. Er ritt auf dem Stier und hatte zunächst auch recht kühn zu kämpfen begonnen, doch jetzt wallte die Wut des Tieres wieder hoch und seine Kräfte spannten sich mehr und mehr, und in der nächsten Sekunde konnte sich die Bestie zu Boden wälzen und ihn mit ihrer Masse erdrücken, oder sie konnte ihn abschütteln und mit den Hufen zertrampeln. Enkidu war in großer und unmittelbarer Gefahr. Und das erkannte Gilgamesch, und nichts sonst zählte für ihn. Nachdem er ihn endlich wiedergefunden hatte, sollte er ihn so schnell wieder verlieren, bei einem aberwitzigen Stierkampf — nein, das durfte nicht geschehen!
Es war wieder wie damals in jenem anderen Leben, als der Himmelsstier wild durch das alte Uruk raste, und Enkidu hatte das Tier bestiegen und sein Gehörn gepackt und es zu Boden zu ringen versucht. Damals waren ihrer beider Kräfte nötig gewesen, den Stier zu töten. Und hier würde es wieder so sein.
Gilgamesch griff nach seinem Schwert. Herodes sah es und faßte ihn am Arm und jammerte: »Nein! Gilgamesch, geh nicht da hin!« Aber dieser schob ihn weg und kletterte über die Logenbrüstung. Enkidu, der sich nun nur noch mühsam auf dem tobenden bockenden Ungetüm halten konnte, grinste ihm entgegen.
Das ganze Stadion schien wahnsinnig zu werden.
Die Leute waren aufgesprungen, viele brüllten, andere schubsten und drängten sich nur einfach durcheinander vor Erregung. Da und dort brachen Faustkämpfe aus. Dumuzi war aufgestanden, seine Augen rollten wild, das Gesicht war blau angelaufen, er fuchtelte heftig mit den Armen. Gilgamesch warf einen raschen Blick in die Höhe und sah kämpfende Gestalten auf der obersten Galerie. Dumuzis Scharfschützen und Vy-otins Männer? Und noch weiter oben kreiste ein Schwarm von Flugdämonen im Himmel, gräßliche Bestien mit weit aufgerissenen Schnäbeln und langen glitzernden Flügeln.