Picasso zeichnete wie besessen, forderte Gilgamesch durch Gesten immer wieder zu einem neuen Kampf auf und konnte nicht genug kriegen. Und Ninsun, die nun majestätisch in der verwaisten Königsloge thronte, sah mit lächelndem Stolz zu und nickte jedesmal befriedigt, wenn ihr Sohn ein Tier mit dem Schwert tötete.
Nach dem dritten Stier begannen Herodes und Simon Magus unbehaglich dreinzublicken, als fänden sie es unpassend, daß ein König zum Spaß vor seinen Untertanen fremdartige Geschöpfe abschlachtete, oder — wahrscheinlicher — weil sie fürchteten, Gilgamesch könnte sein Leben verlieren, falls er es weiter so in der Arena aufs Spiel setzte, und dann würde die Stadt in ein Chaos versinken, bevor sie selbst sich in Sicherheit bringen konnten. Aber Gilgamesch tat ihre besorgten Gesten ab, und als Herodes ihm einen gefalteten Zettel überbringen ließ, warf er ihn ungelesen weg. Es war eine lustige Arbeit, dieser Kampf mit den Stieren, es kam dem noch am nächsten, was er unter hoher Lust verstand und was er seit mehr Ewigkeiten, als er sich erinnern konnte, nicht mehr erlebt hatte, und er beabsichtigte, dieses Gefühl ganz auszukosten. Sobald er die Arena verlassen würde, war es zu Ende mit der Freude, und die Verantwortung begann, und damit hatte er es gar nicht eilig. Er raffte sich zusammen und verlangte nach dem nächsten Stier.
Doch schließlich waren die Ställe leer, und den Himmel bedeckten die dunklen violetten und roten Streifen der aufziehenden Nacht. Der wundervolle Kampftag war vorbei. Seite an Seite standen Gilgamesch und Enkidu in der blutbeschmierten Arena, schwitzend, selbst ein wenig blutbedeckt, doch unverletzt.
»Komm, Bruder«, sagte Enkidu. »Auf in den Palast.«
»Ja, auf in den Palast«, sagte Gilgamesch.
Nachher, als sie durch die Menschenmasse schritten, schien es ihm, als wären Enkidu und er inmitten der Menge wie eingeschlossen in eine undurchdringliche Kugel aus Stille. Die Soldaten der königlichen Garde, die noch am Morgen die Person König Dumuzis beschützt hatten, zogen vor und hinter ihnen her, schwangen reichgeschmückte Amtsknüppel, doch schien eine derartige Machtdemonstration kaum nötig. Das Volk von Uruk hielt sich scheu und mit ängstlich geweiteten Augen zurück, während sein neuer Herrscher daherkam, und erst als er vorbeigeschritten war, erhoben sich hinter ihnen die Jubelrufe nach »Gilgamesch!« und hie und da »Enkidu!«.
In Dumuzis altem weiten und düsteren Palast hielt Gilgamesch an diesem Abend seine erste Audienz; er saß auf dem pompösen hohen Thron Dumuzis und hatte das wuchtige kostbar gearbeitete goldene Szepter Uruks achtlos auf dem Schoß liegen. Zu seiner Linken stand Enkidu, Ninsun stand rechts, Herodes und Simon Magus im Schatten an der Wand, neben ihnen Vy-otin in seinem drolligen Geschäftsanzug vom Schnitt der Später Toten, als die Minister und Beamten des verstorbenen Königs einzeln vortraten, um ihm zu huldigen. Auch der kleine Picasso war da und kritzelte Skizzen von allem und jedem, so schnell seine Hand zeichnen konnte.
Gilgamesch empfand dies alles, als wäre er in einem Traum, der viel lebhafter und intensiver war als die Wirklichkeit selbst. Es war ihm, als wären Tausende von Jahren in einem Nu zunichte geworden und als befände er sich wieder mitten in seinem Erstleben. Wieder war er ganz frisch aus dem Exil nach Uruk gekommen, nach langer Wanderschaft. Wieder hatte er dem schwachen und verhaßten Dumuzi die Krone entrissen, genau wie damals, als er jung war. Und wieder kam die Prozession der Vizekönige Dumuzis, der Kämmerer, der Oberaufseher und Verwalter, der Steuereintreiber und Gouverneure, um vor dem König Gilgamesch das Knie zu beugen.
Damals, beim erstenmal, war es ihm als unvermeidlich erschienen, König zu sein. Er war dazu geboren. Doch mit dem hier hatte er nie gerechnet. Wie oft hatte der Gilgamesch der Nachwelt nachdrücklich gegenüber allen, die ihm zuhören wollten, betont, daß er das nicht wolle, diese Grandeur, den Pomp, das Gepränge! Wie würde Caesar jetzt spotten! Wie würde Bismarck lachen, oder Lenin! »Mich verlangt nicht nach dem Königtum«, hatte er so oft behauptet. »Das Streben nach Macht in der Nachwelt ist Torheit und Irrsinn.«
Und nun saß er in der Schlinge. Ein Ding hatte zum nächsten geführt und immer weiter und weiter, und hier saß er wieder auf einem Thron und fühlte, wie die Königswürde über ihn hereinbrach wie ein unaufhaltsamer Sturzbach und wie sie eine Einsamkeit mit sich brachte, die brennender war als je das Gefühl in seinen einsamen Jahren im Outback.
»Der Kammerherr der Schärpe Enlils! Der Proviantmeister! Der Vorsteher des Ubshikkinakku-Heiligtums! Der Pfleger der Königlichen Pracht! Der Gouverneur von…«
Sie defilierten vorbei, endlos, bedrückt-feierliche Gesichter von kleinen Potentaten, gekleidet in Prunkgewänder, und schielten verzweifelt zum König auf, ob dieser sie auch ja in ihrem bisherigen Rang bestätigen mochte. Und er nickte mit glasig starrem Blick und nickte mit seinem bekrönten Haupt diesem zu und jenem und diesem, und ihm schien, als zöge sich die Schlinge des Königseins mit jedem Augenblick fester um seine Kehle zu.
Würde diese Prozession denn nie ein Ende finden?
Enkidu berührte seinen Arm und zwinkerte ihm zu. »Sieh ein bißchen freudiger drein, Bruder Gilgamesch! Zeig, daß du dich freust! Danach kommt das Fest! Und danach…«
Enkidu grinste lüstern, griff sich zwischen die Beine, rollte wollüstig die Hüften und stieß sie drei-, viermal nach vorn.
Trotz seiner wachsenden Umdüsterung rang Gilgamesch sich ein Grinsen ab. Enkidu hatte schon immer die Gabe besessen, ihn aus seiner hervorstechendsten Sündhaftigkeit, dem übermäßigen Ernst, herauszulocken. Er machte eine Handbewegung hinab zu den Honoratioren in der Schlange, sie sollten sich rascher bewegen. Von der dunklen Seitennische her nickte Herodes beifällig und schlug einen kleinen Kreis mit der Hand, wie um anzudeuten, daß Gilgamesch die Prozedur sogar noch mehr beschleunigen könnte. Simon Magus neben ihm schien im Stehen zu schlafen.
Zu Enkidu sprach Gilgamesch: »Wieviele sind’s denn jetzt noch?«
»Die Schlange erstreckt sich aus dem Palasttor und über die halbe Plaza.«
»Da«, sagte Gilgamesch und drückte Enkidu das Szepter in die Hand. »Geh runter zu ihnen, halte ihnen das da über die Köpfe und erkläre ihnen, daß sie alle in ihren Ämtern bestätigt sind, sonst kommen wir nie zu unserm Fest. Wir können die meisten dieser Leute später abservieren, wenn wir herausgefunden haben, wie der Laden hier wirklich läuft.« Und kopfschüttelnd setzte er hinzu: »Ihr Götter! Wozu hat Dumuzi bloß diesen ganzen Haufen von Beamten gebraucht?«
Doch später, als die endlose Zeremonie endlich vorbei war und er sich aus dem Thronsaal in den Festsaal begab, dachte er zu seiner Überraschung, daß möglicherweise die meisten dieser Männer irgendwelche echten Funktionen erfüllten und ihm nützlich sein konnten. So chaotisch die Nachwelt sein mochte, die Städte brauchten trotzdem immer noch Behörden und Verwaltung, und es waren nicht die Könige, die eine Stadt in Gang hielten, sondern jene Leute, die unter dem König die tägliche mühevolle Verwaltungsarbeit leisteten. Soviel erinnerte er sich noch aus den früheren Perioden als Machthaber, sowohl in der anderen Welt als auch an seine ersten Tage der Herrschaft in diesem Uruk der Nachwelt, woran er sich mit wachsender Deutlichkeit nun wieder zu erinnern begann.
»Ist sie dir zu schwer, Bruder, die Krone?« fragte ihn Enkidu.
»Sie sitzt ziemlich eng. Aber, nein, nein, ich will sie einigermaßen fröhlich tragen.«
»Ich hätte nie gedacht, daß ich dich wieder auf dem Thron sehen würde.«
»Ich auch nicht. Ich hatte geglaubt, ich hätte davon für ein ganzes Leben lang genug, vielleicht sogar für zwei Leben. Aber ich kann anscheinend den Kronen nicht auf Dauer entrinnen, dann finden sie mich wieder, was?«