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Gilgamesch starrte ihn an. »Also wußtest du von diesem Uruk in der Nachwelt?«

»Aber sicher doch.«

»Ich meine dieses hier, nicht das Uruk aus unserem ersten Leben.«

»Das da, klar. Das Nachwelt-Uruk, das du selbst vor langer Zeit gegründet hast, über das du, ich weiß nicht wieviele hundert Jahre, geherrscht hast. Und ich war genau hier, an diesem Ort die ganze Zeit bei dir, Gilgamesch.«

Gilgamesch fühlte ein Brausen im Kopf. »Die ganze Zeit, in der wir zusammen durchs Outback streiften, konntest du dich daran erinnern, daß wir einmal hier gelebt haben und daß ich hier König war?«

»Aber natürlich doch. Sicher.«

»Und hast nie ein Wort darüber zu mir gesagt?«

Enkidu sah ihn verwirrt an. »Aber das habe ich doch. Oft. Wie oft haben wir uns gegenseitig von den guten alten Tagen im Nachwelt-Uruk erzählt, Gilgamesch, wenn wir nach einer langen Jagd spät am Lagerfeuer saßen. Oft und oft.«

»Wäre das möglich? Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern.«

»Willst du damit sagen, wir hätten nie so miteinander gesprochen?«

»Ich sage nur, ich habe keine Erinnerung daran.«

»Aber das bedeutet nicht, daß es nicht so war, Bruder.«

»Vielleicht hast du aber nie mit mir darüber geredet.«

»Aber das habe ich! Ich habe es!« In Enkidus Augen glomm nun Verärgerung auf. »Was sollen diese ganzen Fragen bedeuten, Gilgamesch? Was beunruhigt dich? Ich sage dir, wir haben oft über das Nachwelt-Uruk gesprochen und uns gefragt, wer dort an der Macht sein mochte, und ob er ein gerechter Herrscher sein würde, und vielerlei in dieser Richtung.«

»Ich habe das alles vergessen.«

»Was?«

»Ich sage es dir doch. Ich konnte mich an nichts aus diesem Uruk hier erinnern, oder daran, daß ich hier König war, bis vor einer ganz kleinen Weile«, sagte Gilgamesch und drückte die Hand seitlich gegen den Kopf, wo er auf einmal Schmerzen verspürte. »Auch nicht daran, daß wir jemals in unseren Jahren im Outback darüber gesprochen hätten. Simon Magus in Brasil forderte mich auf, mit ihm nach Uruk zu suchen, und ich fragte, was für ein Uruk, es gibt kein Uruk in der Nachwelt! Und nach einiger Zeit bekam ich einige Beweise, daß ich mich da geirrt hatte, aber ich zweifelte immer noch daran, und ich zweifelte, bis ich tatsächlich hier eintraf. Und nun kehrt mir alles mehr und mehr zurück. Ja. Aber in all den Jahren fern von hier war mir das alles aus der Erinnerung entschwunden.«

»Aus deiner Erinnerung entschwunden, Bruder? Nun ja, so geht das eben oft zu in der Nachwelt«, sagte Enkidu und zuckte die Achseln. »Es ist ein Ort voll höllischer Tricks.«

»Ja, wahrhaftig.«

»Ich stelle mir vor, daß es dich enorm beunruhigt haben muß, nicht, als dieser Simon dir gegenüber anfing, von dieser Stadt zu sprechen, und du hattest gar keine Ahnung.« Enkidu sah ihn eindringlicher an. »Bruder, könnte das der Grund sein, weshalb du mich fragtest, wie das bei meinem Tod war? Hast du denn auch vergessen, wie der Tod hier an diesem Ort ist?«

»Wie könnte ich etwas vergessen, das ich nicht erfahren habe? Ich bin nie — «

Er sah das Funkeln in Enkidus dunklen Augen und brach ab.

»Du meinst, daß auch ich in der Nachwelt gestorben bin?« fragte Gilgamesch nach einer langen gewichtigen Pause.

»Da du fragst, kennst du die Antwort nicht.«

Scharf und fest sagte Gilgamesch: »Ich bin nur einmal gestorben, Bruder, und das war in der anderen Welt, als ich alt war und schwer an Jahren und mein Königtum um mich herum groß, und da kam die Dunkelheit zu mir in meinem Schlaf. Aber hier — nein, Enkidu, hier nicht, niemals, nicht ein einziges Mal.«

Enkidu sah belustigt drein. »Nicht ein einziges Mal? In Tausenden von Jahren, die du inmitten all der Gefahren hier zugebracht hast?«

»Willst du sagen, ich bin gestorben?«

Gilgamesch zitterte jetzt.

»Ja, Bruder«, sagte Enkidu leise.

»Wann?«

»Wann? Wie sollte ich das wissen? Wer könnte hier schon die Jahre zählen? Aber laß mich mal nachdenken. Da war die Sache damals in Santo Domingo, als die Erde um dich herum zu Treibsand wurde und dich verschlang, das war das eine Mal. Und das andere Mal, als der Berg aus Eis einstürzte in der Großen Borealis. Und auf der Estotiland-Insel, als das Ungeheuer aus dem Meer auftauchte…«

Gilgamesch schwindelte es. Die Bodenplatten schienen ihm unter den Füßen zu schmelzen. Es gab nichts Festes in dieser Welt, keine Realität, auf die man sich verlassen konnte.

»Götter! Was sagst du mir da? Wie oft hat mich hier schon der Tod geholt?«

Enkidu hob die Handflächen nach oben, »Kann ich nur schwer sagen. Fünfmal? Zehnmal? Ich konnte es nicht zählen. Ich konnte noch nie gut zählen, Bruder. Aber oft genug war es. Du weißt doch, es geschieht uns allen immer wieder und wieder.«

»Ich erinnere mich nicht an derlei«, sagte Gilgamesch mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war.

»Auch ich muß wohl vieles vergessen haben, Bruder. Da kann es keinen Zweifel geben. Die Tafel wird immer wieder saubergewischt. Und was macht das schon? Wir leben, wir sterben, wir leben und sterben wieder — so geht das hier nun einmal. Wenn wir alle unsere Erinnerungen gleichzeitig im Gedächtnis behalten müßten, wir würden verrückt werden. Allerdings glaube ich manchmal sowieso, daß wir alle verrückt sind.«

»Tode — so viele Tode zu sterben…« murmelte Gilgamesch.

Er starrte blicklos geradeaus und sah sich dabei selbst stürzen und immer wieder stürzen, wie einen großen Baum, der irgendwie immer erneut gefällt werden konnte. Er sah sich leblos auf einer kahlen Ebene liegen, sah sich am Rand einer stürmischen See, auf dem Kamm eines von Wölfen durchheulten Berges. Und jedesmal erwachte er wieder und begann neu und erinnerte sich an nichts mehr. Daß er so viel vergessen konnte, daß die trügerische Nachwelt ihn so umfassend beeinflussen konnte, das traf ihn hart. Sein Gesicht brannte vor Scham. Und auch vor Selbstverachtung wegen seines erbärmlichen Stolzes, der ihn veranlaßt hatte, so zu tun, als sei er hierorts unangreifbar und unverletzlich, und weil er selbst an seine Angeberei geglaubt hatte.

»Gilgamesch?« fragte Enkidu.

»Einen Augenblick, bitte. Das verwirrt mich alles.«

»Nicht, Bruder! Laß es leicht von dir abgleiten.«

»Wenn ich das nur könnte!«

»Ach ja. Die Vorstellung vom Sterben bedrückte dich schon immer. Immer noch?« sagte Enkidu. »Aber der Tod kommt doch so leicht. Und man sollte ihn ebenso leicht nehmen.«

»Ja. Da sagst du was Wahres.«

»Dann streife die Gedanken daran ab. Laß los!«

Gilgamesch nickte und wandte das Gesicht ab.

Aber es gelang ihm nicht, die Düsternis abzuschütteln, in die ihn Enkidus Erklärung eingesponnen hatte. Eine Illusion nach der anderen war ihm fortgerissen worden, seit jenen unschuldsvollen Tagen, als er im Outback umherzog, und es fiel ihm schmerzlich schwer, dies auszuhalten. Er stand reglos da und klammerte sich an die steinerne Brüstung der hohen Galerie, als fürchtete er, auf den Boden hinabzustürzen, wenn er den Griff lockerte. Verzweifelt mühte er sich um Fassung.

»Ach, komm schon, Bruder!« Enkidu neigte sich zu ihm und knuffte ihr lachend sanft mit den Fäusten, als wollte er ihn so aus seiner brütenden Trübsal locken. »Was bedeutet schon ein kleiner Tod oder zwei? Das passiert uns doch allen. Aber jetzt leben wir, oder leben wir etwa nicht, und du bist wieder ein König, und alles steht gut, Bruder. Alles steht bestens!«

Einige Tage später fand sich Simon der Magier vor Gilgamesch in dessen Audienzzimmer ein; er roch nach Wein und sah mitgenommener aus denn je. Er sagte: »Ich gedenke in Kürze wieder nach Brasil aufzubrechen.«