Helena sagte bebend, und sie wirkte auf einmal sehr klein: »Das macht mir Angst! So ins Unbekannte zu gehen, ohne zu wissen, ob wir uns auch bestimmt drüben wiedersehen werden…«
»Wir werden uns wiedersehen«, versprach Enkidu trotzig. »Irgendwie werden wir es, das weiß ich! Du mußt es nur glauben!« Er schaute auf sie hinab. »Wir sind uns einmal begegnet, und wir werden uns immer nahe sein. Das mußt du glauben. Du mußt einfach!« Und er zog sie dicht an sich. »Sag etwas, ja?«
»Ja«, murmelte Helena, Ihre Augen strahlten wieder, ihr Gesicht strahlte wieder. »Ja, ich glaube, das werden wir. Ganz gewiß, Enkidu.«
»Und du, Bruder? Was meinst du? Kommst du mit uns?«
Gilgamesch blickte umher. Enkidu, Helena, der Behaarte Mann. Hinter ihnen Herodes. Weiter weg Vy-otin und Ninsun. Alle stumm. Ihr Schweigen brandete ihm entgegen wie die Wogen einer wütenden See. Eine seltsame Entschlußunfähigkeit bemächtigte sich seiner und lähmte ihn, so daß er wie erstarrt vor Kälte war.
Er hatte sich für diese Fahrt entschieden, so gefahrvoll und voller Geheimnisse sie sein mochte, einzig um an Enkidus Seite bleiben zu können. Der Behaarte aber bot ihm dafür keine Sicherheit. Und wenn Enkidu wahr sprach und der Behaarte in Simons Auftrag Unheil wider sie wirken sollte, um dessen Zorn über die Weigerung, Helena auszuliefern, zu verdeutlichen — aber nein, das paßte einfach nicht zu Simon, und auch der Behaarte hatte noch nie ein Zeichen von Arglist erkennen lassen.
»Nun, Bruder?« fragte Enkidu.
Gilgamesch blickte den Haarigen Mann fest an. Aber das eisgraue Zottelgesicht verriet nichts. Er blickte zu Herodes hin, doch der zuckte nur die Achseln und wandte die Augen ab. Er blickte zu Vy-otin und bekam auch von dessen einem brennenden Eisjägerauge keine Antwort. Und dann sah er zu Ninsun, und sie lächelte.
Sie nickte.
»Mutter?« sagte er.
»Wann wärest du je vor einer Gefahr zurückgeschreckt, mein Sohn?«
»Du willst, daß ich mitgehe?«
»Du willst es«, sagte Ninsun. »Also, was zögerst du?«
»Aber du sagtest doch…«
»Natürlich möchte ich, daß du hierbleibst. Ich würde lügen, wenn ich dir etwas anderes sagte. Aber ich sehe auch, daß du dich für diesen Weg entschieden hast, und niemand könnte dich aufhalten, noch sollte das einer. Du bist Gilgamesch, und du wirst tun, was Gilgamesch will. Außerdem, Enkidu hat recht. Ihr werdet einander finden. Irgendwie.«
»Ja«, sagte Gilgamesch, und ihm war, als bräche ein Damm in seinem Herzen. »Du hast mir stets nur die Wahrheit gesagt, Mutter. Wie sollte ich jetzt an dir zweifeln?«
Der Behaarte Mann sagte: »Hier ist die Salbe. Reibt euch damit die Wangen ein und den Hals und über den Augen. Dann laßt Stille in euer Herz einziehen und wartet.«
»So ist es also eine Zauberdroge, die uns hinbringt?« fragte Gilgamesch. »Die gleiche, die Calandola benutzte bei der Offenbarung der Erkenntnis?«
»Nichts dergleichen«, antwortete der Behaarte.
Er setzte drei Schalen aus weißem Porzellan vor sie hin. Sie befanden sich in einem der obersten Räume des Palasts, einem kahlen leeren Gemach mit schmalen Schlitzen als Fenstern, durch die nur ein höchst schwacher Lichtschimmer drang und ein Hauch glutheißer Luft. Gilgamesch warf einen Blick zu Enkidu hinüber, der bereits die Schale genommen hatte und sich das Zeug eifrig ins Gesicht rieb. Auch Helena begann sich damit einzureiben. Doch er selbst zögerte, nach seinem Salbentigel zu greifen. Es überraschte ihn, daß er in einem so späten Augenblick noch zaudern sollte. Er wußte, das hing mit den Veränderungen zusammen, die sein Geist in seinem jüngsten Leben durchgemacht hatte: Er, der einstmals vor nichts gezögert hatte, starrte nun beklommen auf den kleinen weißen Porzellantigel, als enthielte er ein scharfes Gift, das ihm das Fleisch von den Knochen brennen würde.
Also sprach er zu dem Behaarten: »Sag du mir nur eines noch…«
»Sag mir, sag mir, immer nur sag mir! Genug der Fragen, König Gilgamesch! Tu es einfach! Geh!«
»Genau, Bruder!« rief Enkidu. »Wir müssen alle gemeinsam aufbrechen!«
»Ja«, stammelte Gilgamesch. »Das müssen wir.«
Und er nahm den Salbtopf. Dieser war warm, und aus ihm stieg ein starker Duft auf, der war wie Honig und Wein und Rosenöl, aber dazu auch noch scharfe brennende Gewürze, die ihm in die Nase stachen, und noch etwas anderes, ein schweres, beklemmendes Aroma, dunkel, dumpf und fremdartig. Die beiden anderen hatten ihre Salbung inzwischen beinahe beendet. Gilgamesch tauchte die Finger in den Topf und hob die Salbe an sein Gesicht. Kurz dachte er an jene andere Salbung, die Calandola mit jenem seltsamen Öl an ihm vorgenommen hatte, als er ihm einen fremdartigen Wein zu trinken gab und dann ein gräßliches Fleisch zu essen, und er erinnerte sich wieder an alles, was aus diesem unheimlichen Ritual entstanden war. Nun, so sei es denn, und komme, was da wolle: Er hatte sich auf dieses Abenteuer eingelassen, also wollte er nicht länger zaudern. Er rieb sich die Salbe auf die Wangen und fühlte ein Brennen, jedoch es war nicht schmerzhaft, und er rieb sich davon den Hals ein und die Stirn, bis das Töpfchen leer war, und der Duft der Salbe stieg ihm in die Nüstern und zog tief hinab in seine Lunge.
Beinahe sogleich fühlte er sich benommen, spürte, daß ihm die Kehle eng wurde. Er wankte, fing sich wieder, wankte erneut. Die Stille ringsum war gewaltig. Er hatte mit Rascheln, Zischen und Brummen gerechnet, mit Traumgeräuschen, Hexenlärm, mit unheimlicher Musik in der Luft, dem Klatschen von Fledermausflügeln, dem Kreischen und Heulen von Ungeheuern. Aber da war nichts. Nichts. Nur bestürzend klare Wahrnehmung und eine gewaltige Stille, die das Schweigen des Mondes hätte sein können.
Er sah zu Enkidu und Helena hinüber. Sie standen entfernt voneinander und hatten starre Augen, als schauten sie in ein endloses Nichts. Der Behaarte Mensch war nirgendwo zu sehen.
»Bruder!« rief Gilgamesch. »Ich spüre, daß ich fortgehe, Bruder. Wirst du mitgehen?«
Doch er konnte nicht einmal den Klang der eigenen Stimme hören, und von Enkidu kam keine Antwort.
Und dann sah er plötzlich die beiden nicht mehr. Er befand sich allein und auf einer großen kahlen Fläche unter einem leeren Himmel. Hinter ihm ragte ein vereinzelter gewaltiger Felsen auf, hoch wie ein Gebirge. Vor ihm gähnte der Abgrund, der gewaltige Riß, der zwischen den Welten liegt. Und am Rand dieses Abgrunds ragte ein ungeheuer hoher Baum unermeßlich weit empor, ein blattloser Baum, nur mit kahlen starren Ästen, die ihrerseits gleichfalls so dick waren wie gewaltige Bäume, die wie Leitersprossen von ihm ausgingen.
Und er wußte, was für ein Baum das war. Es war die Axis Mundi, die Spindel der Welt, der Baum des Lebens, um den alles andere sich dreht, dessen Wurzel im Kern der Schöpfung ankert, und seine Zweige ragen über das Dach des Himmels hinaus. Und er mußte da hinaufsteigen, um das Land der Lebenden zu erreichen.
Er griff nach dem untersten Ast und schwang sich hinauf.
Anfangs ging das ziemlich leicht. Greif nach oben, pack dir den nächsthöheren Ast, zieh dich hinauf, mach eine kurze Pause, klammere dich mit beiden Armen fest, dann recke dich hoch, stemm dich, ein Bein hinauf, dann das andere, mach eine Pause, und dann mach weiter. Aufwärts, aufwärts und weiter aufwärts. Steige auf und klettere und krieche nach oben, bis du aus dieser Welt hinausgeklettert bist und die erreicht hast, die direkt an sie grenzt.
Hinauf! Hinauf! Nach oben…
Doch während er hinaufstieg, merkte er, daß er zugleich nach unten geriet. Der Baum schien gleichzeitig in beide Richtungen zu wachsen, so daß jeder Fortschritt nach oben — und jetzt sah er bereits weit über seinem Kopf den Nordstern in kaltem Licht funkeln — ihn ebenfalls nach unten brachte, in den finsteren luftlosen Abgrund, in die große Mutterhöhle des Kosmos. Er versuchte nicht, das zu verstehen. Am Angelpunkt, an der Achse der Welt, wer konnte da schon irgend etwas verstehen? Wenn der Weg nach außen auch gleichzeitig der nach innen war, nun gut. Nun gut so. Er stieg weiter, Sprosse um Sprosse um Sprosse auf der Baumleiter. Das Holz fühlte sich glatt und kalt unter seinen Händen an. Und dann wußte er nicht mehr in welche Richtung er sich bewegte, er steckte in einer Erdkluft, einem gewundenen unterirdischen Durchgang, aber ebenso war er zugleich weit über dem Boden, weit droben in einem von Sternenfunken wimmelnden Bereich mit eisigen Winden und ewiger Nacht. Es war eine Zeit jenseits der Zeit, ein Raum außerhalb allen Raums. Er befand sich tief im Mutterschoß der Welt. Dem Dach des Himmels nahe.