Выбрать главу

Urplötzlich verließ sie der Trost gemeinsamer Arbeit. Sie schauten sich an.

Der Junge wollte etwas sagen. Er suchte etwas in seinen Taschen, mit flüsterndem Rascheln klebten die Finger am Stoff von Hemd und Hose. Aus der Gesäßtasche der Hose tauchte der Bleistiftstummel auf, doch als die Suche nach dem Block ergebnislos verlief, erschien eine Falte auf der gewölbten Stirn des Jungen. Er klopfte sich von oben bis unten ab, bis sich dünnster Honigflaum zwischen seinen Fingerspitzen und den Taschen bildete und ihn mit einem seidenen Netz überzog. Hilflos sah der alte Mann zu, wie der Junge mit steigender Unruhe Fäden des Verlusts aus Handflächen und Fingerspitzen spann. Seit Brunos Verschwinden war der Schreibblock zweifellos alles, was ihm als Gefährte seiner Gedanken geblieben war.

»Vielleicht hast du ihn bei den Bienenstöcken verloren«, schlug der alte Mann vor, und als er die Worte aussprach, hörte er darin sowohl den Klang echten Trostes, den er nun endlich in sie hatte hineinlegen können, als auch die absolute Hoffnungslosigkeit des Erwachsenen.

Also marschierten sie über den Bienenhof, wo es dem alten Mann mit brennenden Gelenken und zitternden Muskeln gelang, seine klapprigen Überreste zu Boden zu bringen. Mit der ihm eigenen, hundegleichen Zuversicht durchkämmte er den Hof nach dem pappigen, breiigen Rest der verlorenen Kinderstimme. Aus dem niedrigen Winkel seiner Suche ragten die sechs Bienenstöcke im späten Sonnenlicht feierlich weiß empor wie eine Tempelreihe in Lucknow oder Hongkong. Während er auf Händen und Knien krabbelte, kam ihm wieder der Gedanke, möglicherweise so zu sterben, und zu seiner Freude stellte er fest, dass diese Aussicht von keinem unwürdigen Schatten verdunkelt wurde. Ein langes Leben verschliss alles Unwesentliche. Manche Alten waren am Ende ihrer Tage wenig mehr als die Summe ihrer Erinnerungen, andere nur eine kneifende Zange oder eine Sammlung bitterer Überzeugungen. Ihn würde es durchaus zufrieden stellen, am Ende nur noch ein einziges großes Organ der Ermittlung zu sein, das auf der Suche nach einem Anhaltspunkt ins Leere griff.

Schließlich war er jedoch gezwungen, sich einzugestehen, dass es nichts zu finden gab. Als er sich unsicher erhob, empfand er das Pochen in seinen Gelenken als allgemein gültiges Verlustgefühl, als Folge der störrischen Weigerung mancher Dinge, sich, einmal verloren, je wiederfinden zu lassen. Voller Inbrunst stieß der Junge einen Seufzer aus. Es klang, als komme er von weit jenseits der Nordsee. Der alte Mann stand da und zuckte mit den Schultern. Mit dem Bewusstsein des Versagens schien sich ein grauer Schatten auf seine Sinne zu legen, als ob der gewaltige Erdsatellit sich gleichmäßig wie eine Wolke vor die Sonne schob. Bedeutung sickerte aus der Welt wie Licht, das die Verfinsterung flieht. Jener gewaltige Apparat aus Erfahrung und Wissen, Schlussfolgerungen und Ergebnissen, als dessen Meister er sich fühlte, war auf einen Schlag nutzlos geworden. Die Welt um ihn herum war ein Blatt voll fremder Wörter. Eine Reihe weißer Würfel, denen ein geheimnisvolles, wehklagendes Brummen entwich. Ein Junge in einem glühenden Gifthauch von Fäden, sein ausdruckslos starrendes Gesicht, dunkel umrandet, als hätte man es aus Papier geschnitten und an den Himmel geklebt. Ein Windstoß zeichnete wogende Bilder der Leere in die blassgrünen Grasspitzen.

Der alte Mann nahm die Faust an den Mund und drückte sie gegen die Lippen, um einen heißen Schwall Übelkeit niederzukämpfen. Sein Versuch, sich mit der schwachen Erinnerung zu beruhigen, dass solche Verfinsterungen schon öfter vorgekommen seien, wurde von der gegnerischen Erkenntnis gestoppt, dass sie immer häufiger auftraten.

Linus Steinman lächelte. Aus einer nicht erforschten Tasche oder Fütterung hatte er ein Pappeckchen hervorgezogen. Der verfinsternde Mond zog weiter; aufs Neue wurde die Welt von Sinn und Licht und der herrlichen Flüchtigkeit von Bedeutung geblendet. Über die Augen des alten Mannes zog sich ein Film beschämter Tränen, als er erleichtert beobachtete, wie der Junge eine knappe Bitte auf das gefundene Stück Pappe kritzelte. Er ging über das Gras auf ihn zu und reichte dem alten Mann mit fragenden Augen den abgerissenen Fetzen cremefarbenen Ingrespapiers.

»Leg of red«, las der alte Mann. Er hatte das starke Gefühl, diese Mitteilung verstehen zu müssen, spürte aber, dass ihr Sinn gerade außerhalb seiner Reichweite lag. Vielleicht war es seinem zusammenbrechenden Hirn diesmal nicht gelungen, sich vollständig von dem jüngsten Lapsus zu erholen. Handelte es sich womöglich um eine in gebrochenem Englisch verfasste Anrufung des verschwundenen Graupapageis mit seinen Beinen von rosaroter Farbe? Oder – Der Pappfetzen glitt dem alten Mann aus den Fingern und schwebte zu Boden. Grunzend bückte er sich, um ihn aufzuheben, und als er ihn aufklaubte, entdeckte er auf der Rückseite zwei Wörter und eine Zahl, nicht in der krakeligen Graphitschrift des Jungen verfasst, sondern mit schwarzer Tinte und schmaler Feder und dem kühnen Schwung eines Erwachsenen. Es war die Adresse von Mr Jos. Black in der Club Row, Händler für seltene und exotische Vögel.

»Woher hast du dieses Papier?«, sagte der alte Mann.

Der Junge nahm die Karte wieder an sich und kritzelte ein einziges Wort unter die Anschrift: BLAK.

»War er hier? Hast du mit ihm gesprochen?«

Der Junge nickte.

»Aha«, sagte der alte Mann. »Verstehe, ich muss also nach London fahren.«

9

Mr Panicker fuhr ihn fast um.

Selbst bei gutem Wetter und mit einem Mann am Steuer, der so nüchtern war, wie es die Natur seiner Profession erfordert hätte, war das Panicker-Fahrzeug – klein, belgisch, uralt, missbraucht vom Sohn des gegenwärtigen Besitzers und nur noch im Besitz weniger Originalteile – schwer zu beherrschen. Die kleine Windschutzscheibe und der zerbrochene linke Scheinwerfer verliehen dem Wagen das blinzelnde, tastende Aussehen eines ertrinkenden Sünders, der nach der allegorischen Rettungsleine greift. Die Lenkung verließ sich, möglicherweise zu Recht, in hohem Maße auf das regelmäßige Ausstoßen von Gebeten. Die Bremsen mochten, auch wenn diese Feststellung Blasphemie war, über jede göttliche Fürsprache erhaben sein. Im Ganzen war das Fahrzeug in seiner Untauglichkeit, seiner Schäbigkeit und seiner überragenden Ausstrahlung unabweisbarer, unabänderlicher Armut nach Mr Panickers ganz persönlicher Meinung ein Sinnbild für das Leben eines Mannes, der, bei weitem nicht professionell nüchtern, in einen Sturm innerer Turbulenzen geraten war, die fast ebenso heftig waren wie die Böen, die den traurigen braunen Imperia an diesem feuchtkalten, stürmischen, typisch englischen Sommermorgen auf der Straße nach London herumschubsten. Es war ein Sinnbild für das Leben eines Mannes, der unversehens feststellen musste, dass er kurz davor stand – und hier trat Mr Panicker wie von Sinnen auf das nutzlose Bremspedal, während der einsame Scheibenwischer immer von neuem undurchsichtige Bögen über die Windschutzscheibe schmierte –, mit Hilfe eines Automobils einen Totschlag zu begehen.