Als er endlich so weit gewesen war, seine eigenen Untersuchungen anzustellen, hatte Carter sich voller Energie in die Arbeit gestürzt. Er hatte die Ketten entfernt, die den Felsen auf der Plattform festhielten, und die breiten gelben Klebestreifen abgerissen, mit denen die Plastikplane befestigt war. Dann hatte er vorsichtig von oben nach unten die Plane selbst aufgeschnitten, so dass die Stücke sich vom Felsen lösten wie Blütenblätter, die sich weit öffneten und schließlich matt herunterhingen. Schließlich lagen die Plastikstreifen gleich einem Nest um den Stein herum. Der Felsen selbst war das reinste Wunder. Ein massiver unebener körniger Block, voller Furchen und Rillen, der überall glitzerte und aus einer Vielzahl unterschiedlichster Mineralien bestand. Geologie war noch nie Carters Stärke gewesen, aber selbst er konnte mit bloßem Auge erkennen, dass dieses besondere Exemplar ein sehr langes und ereignisreiches Leben hinter sich hatte. Jeder hätte es erkennen können.
»In Italien ist die Regierung sehr knauserig, was die Bewilligung von Geldern angeht, so dass wir nur sehr schlecht Zugang zu moderner Technik haben. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass wir gerne nachdenken und mit Theorien arbeiten«, sagte Joe gerade. »Erst später versuchen wir, Beweise zu finden, die unsere Theorie belegen.«
Die Studenten lachten erneut, und eine weitere Frage wurde gestellt. Erleichtert stellte Carter fest, dass Joe sich für die Aufgabe erwärmte. Er wusste, dass sein Freund ein guter Dozent war, und vermutete, dass er bei seinen eigenen Studenten in Rom ziemlich beliebt war.
Aber an jenem ersten Abend im Labor hatte er wesentlich weniger Interesse und Begeisterung gezeigt, als Carter erwartet hätte. Vielleicht war die ganze Sache für ihn schlichtweg enttäuschend. Joe hatte sich zurückgehalten und nur gelegentlich einen Kommentar abgegeben oder eine Feststellung gemacht, während Carter auf dem Felsen herumgeklettert war wie ein Kind auf dem Baum. Einmal hatte er sich flach oben auf den Stein gelegt und versucht, sich vorzustellen, was in seinem Inneren versteinert worden war. Wie lag das Fossil? Welche Knochen waren noch erhalten? Was würden sie ihm möglicherweise über die Evolution und die prähistorische Welt verraten?
»Du solltest vorsichtig sein. Immerhin liegst du auf einer tickenden Zeitbombe«, hatte Joe gesagt und ihn damit an die Kammern mit explosiven Gasen erinnert, die sie beide im Felsen eingeschlossen vermuteten.
»Solange ich das verdammte Ding nicht punktiere, dürfte ich in Sicherheit sein«, hatte Carter erwidert. Doch er wusste, dass dieser Zeitpunkt kommen würde. Letztendlich würden sie einen Weg finden müssen, den Stein wegzumeißeln, zu schmirgeln, zu hacken, zu sprengen oder gar zu lasern, der den Rest des Fossils gefangen hielt. Bis jetzt konnte man nur erkennen, was man von Anfang an erkennen konnte. Diese lange gebogene Klaue, die sich aus dem Felsen zu graben schien. Carter hatte bereits zahllose Fossilien aus allen Teilen der Welt zu Gesicht bekommen, aber so etwas hatte er noch nie gesehen. Es war nahezu unmöglich, es in Worte zu fassen oder es jemandem zu vermitteln, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, aber von diesem Fossil schien eine unbeschreibliche Lebendigkeit auszugehen. Es gab kein besseres Wort, um es zu beschreiben. Als Carter nicht widerstehen konnte und die Greifkrallen streichelte, fühlte es sich nicht an, als würde er eine lang verstorbene Kreatur berühren, ein verkalktes, verknöchertes, versteinertes Ding. Er hatte das Gefühl, ein … schlafendes Wesen anzufassen. Und obwohl er wusste, dass er sich irren musste, dass sein Eindruck unmöglich richtig sein konnte, hatte er das Gefühl, das Ding sei merklich, vielleicht sogar messbar wärmer als der Stein, der es umgab.
»Der Beckenknochen und auch das Schambein sind beim Madagaskarfossil noch sehr primitiv ausgebildet«, erklärte Joe gerade. »Für die späte Kreidezeit ist das eher ungewöhnlich.«
»Haben Sie irgendeine Erklärung dafür, wie das geschehen sein könnte?«, fragte Katie.
»Möglicherweise Isolation. Auf einer Insel kann eine Spezies unter Umständen länger überleben als auf dem Festland. Sie kann eine eigene Entwicklung durchgemacht haben, einen eigenen Nebenweg der Evolution eingeschlagen haben, in ihrem eigenen Tempo, ihrer eigenen … Nische.«
Wohl wahr, dachte Carter. Vielleicht ließen sich damit einige der Anomalien des Fundes in Madagaskar erklären. Aber ihr eigenes Vorzeigefossil vom Lago d’Averno? Im Laufe der Jahrmillionen war der italienische Stiefel, wie alle anderen modernen Länder und Kontinente, gewandert und hatte sich verändert, aber seit mehr als zweihundert Millionen Jahren war er Teil dessen, was Geowissenschaftler Laurasia nennen. Das heutige Italien war niemals in irgendeiner Weise undurchdringlich für extraterritoriale Einflüsse oder Mutationen gewesen. Selbst die alpidische Faltung, die sich im Känozoikum vollzogen hatte, war aus Sicht der Geologie keine große Sache gewesen.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«, bat Katie, und Carter spitzte die Ohren.
»Fragen Sie, dann werden wir sehen«, erwiderte Joe gutmütig.
»Warum sind Sie hier in New York? Besuchen Sie nur Ihren alten Freund Professor Cox, oder sind Sie zum Arbeiten hergekommen?«
Seltsam, wie dieses Mädel ins Schwarze treffen konnte. Selbst Joe wirkte perplex und warf Carter einen raschen Blick zu, gerade als es zum Ende der Stunde läutete.
»Ein wenig von beidem«, sagte Carter über den Lärm hinweg. »Die gute Nachricht ist, dass Professor Russo Ihnen auf informeller Basis zur Verfügung stehen wird. Und die schlechte Nachricht ist, dass unsere Arbeit Sie – um es professionell auszudrücken – nichts angeht. Ich sehe Sie nächste Woche. Vergessen Sie nicht, mir Ihre Semesterarbeiten in mein Postfach im Fachbereichsbüro zu legen.« Während die Studenten auf den Ausgang zuströmten, wandte er sich an Joe: »Und, wie gefällt es dir, in den Staaten zu unterrichten?«
Joe wiegte seinen Kopf vor und zurück. »Gar nicht so schlecht. Aber es wäre besser, wenn ich dabei rauchen könnte.«
»Für eine Sondererlaubnis müsstest du dich an den Chef des Fachbereichs wenden.«
»Und die würde ich bekommen?«
»Eher nicht.«
Nach dem Lunch in der Kantine der Fakultät, wo Joe das zweifelhafte Vergnügen hatte, den Fachbereichsleiter Stanley Mackie kennenzulernen, verbrachten sie den Rest des Tages im Labor. Der Argon-Laser war geliefert worden, und ein Techniker vom Fachbereich Medizin brauchte mehrere Stunden, um Carter und Joe die Anwendung zu erklären. Im Großen und Ganzen hatte Carter das Gefühl, zu wissen, wie er das Teil bedienen musste, aber er würde es nicht vor nächster Woche ausprobieren. Und selbst dann würde er es erst an den Proben des Smilodon testen, die kürzlich der Universität gespendet worden waren. Erstens waren sie nichts Besonderes, und zweitens hatten sie keine gefährlichen Gase in sich eingeschlossen.
Um Punkt sechs Uhr, als er immer noch in das Handbuch des Lasers vertieft war, ertönte draußen ein lautes Hupen, direkt hinter den Metalltoren des Labors.
»Carter?«, sagte Joe.
»Hm?«, machte Carter ohne aufzublicken.
»Ich glaube, deine Freunde sind da.«
Carter konnte es nicht glauben, bis er auf die Uhr schaute. Er hatte mit Beth ausgemacht, dass er um sechs Uhr bereit sei für ihren Ausflug aufs Land, und um es ihm leichter zu machen, hatte sie vorgeschlagen, Ben und Abbie zu bitten, mit dem Wagen direkt bis vor die Labortür zu fahren.
Carter warf das Handbuch in die Reisetasche zu seinem anderen Kram und zog seine Lederjacke an. »Und du kommst wirklich allein zurecht?«, fragte er Joe.