»Ist dir schon einmal aufgefallen«, flüsterte er, »dass man angesichts der Eheprobleme anderer Paare erst richtig würdigen kann, wie gut man es hat?«
Im Schlafzimmer direkt unter ihnen hörten sie, wie eine Schublade krachend geschlossen wurde, dann gedämpfte Stimmen. Beth meinte Abbie sagen zu hören, etwas sei »so peinlich« und konnte sich gleich mehrere Dinge vorstellen, die damit gemeint sein könnten. Ben sagte immer wieder: »Hör doch auf!«
»Ein guter Grund, sich niemals ein Landhaus zu kaufen«, sagte Carter.
»Zumindest nicht dieses hier«, flüsterte Beth.
»Ziemlich unheimlich, was?«
Sie lächelte. »Und ziemlich kalt«, sagte sie ebenso leise wie er.
»Nimm ein heißes Bad«, sagte er. »Ich packe inzwischen aus.«
Beth fischte ein paar Sachen aus ihrer Tasche und ging ins Badezimmer. Das Fenster hatte weder einen Vorhang noch eine Jalousie und wies auf sich endlos erstreckende schwarze Felder, verkümmerte Bäume und ein Gebäude in der Ferne, das wie eine verlassene Scheune aussah. Sie drehte den Heißwasserhahn ganz auf und lauschte, als die Rohre stöhnten und ächzten. Anfangs war das Wasser braun, wurde jedoch rasch klar. Als sie schließlich in die tiefe alte Badewanne stieg, war es einfach nur himmlisch. Sie lehnte den Kopf zurück und ließ die Hitze zu ihren Knochen durchdringen. Hoffentlich hatten Abbie und Ben morgen bessere Laune. Es gab nichts Schrecklicheres, als mitten im Ehekrach von anderen Leuten festzusitzen, vor allem, da sie sich eigentlich auf ein gemütliches und romantisches Wochenende gefreut hatte. Sie und Carter hatten ein gutes Leben in der Stadt. Ein großartiges Leben, wie wohl die meisten Leute sagen würden, aber sie mussten beide auch hart dafür arbeiten. Es war Zeit, dass sie einmal ausspannten und sich ein wenig vergnügten.
Als sie aus der Wanne stieg und die Tür zum Badezimmer öffnete, tat Carter genau das, was sie sich vorgestellt hatte. Er saß auf dem Bett, die Nase in einem Stapel Papiere vergraben.
Doch dann blickte er auf und sah sie in ihrem neuen Outfit von Victoria’s Secret. Sie war vielleicht nicht gerade Heidi Klum, aber sie sah gar nicht so übel aus. Carters Papiere rutschten ihm auf den Schoß, und der Unterkiefer tat es ihnen beinahe gleich.
»Lass dich nicht stören«, schnurrte sie.
»Zu spät.«
Gut zu wissen, dachte sie, als sie sich in seine ausgebreiteten Arme kuschelte, dass sie immer noch jedes Fossil der Welt aus dem Rennen schlagen konnte.
14. Kapitel
Im Nachhinein dachte Russo, dass der Bootstrip vermutlich nicht die beste Idee gewesen war, aber da hatte er das Ticket bereits gekauft, und die frische Luft würde ihm vermutlich guttun.
Auf der Party gestern Abend hatte er zu viel getrunken. Kaum hatte er die Wohnung betreten und sich in das dichte Gedränge gestürzt, war schon Bill Mitchell aufgetaucht und hatte ihm ein Glas Halloween-Punsch in die Hand gedrückt. Er wusste immer noch nicht, was genau das eigentlich gewesen war. Dann hatte Mitchell ihn überall vorgestellt, als sei er der bekannteste Paläontologe Europas. »Er ist wegen eines supergeheimen Projekts in New York«, hatte Mitchell behauptet. »Wenn irgendjemand herausbekommt, worum es sich handelt, möge er sich bitte bei mir melden.«
Russo hatte sich Mühe gegeben, die Sache herunterzuspielen, und sich ziemlich gut amüsiert. Die Partygäste waren eine Mischung aus jüngeren Fakultätsmitgliedern, Doktoranden und sogar einigen Studenten. Er traf diese Studentin, Katie Coyne, die ihm im Hörsaal ein paar Fragen gestellt hatte. Sie war ein sehr verführerisches und selbstherrliches junges Ding. Selbst auf der Party wollte sie alles Mögliche von ihm wissen. Wie er dahin gekommen sei, wo er heute stand, bei welchen Ausgrabungen er dabei gewesen sei, wo seiner Meinung nach die nächsten großen Entdeckungen zu erwarten seien. Selten hatte er Studenten in ihrem Alter getroffen, die so auf ein Thema fixiert waren.
»Wenn Sie Ihren Abschluss haben«, sagte er, »besuchen Sie mich einmal in Rom. Ich glaube, Sie werden eines Tages großartige Arbeit leisten.«
Nach Mitternacht war er nach Hause getorkelt und am nächsten Morgen spät aufgestanden. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine Bettdecke zusammenzulegen, da Beth und Carter erst Sonntagabend zurückkommen würden. Er war wild entschlossen, diese Circle Line Cruise mitzumachen. Er wollte ein bisschen Tourist spielen, und heute bot sich die perfekte Gelegenheit dafür. Doch er hatte nicht mit dem flauen Gefühl im Magen gerechnet. Ebenso wenig hatte er sich klar gemacht, wie viele Leute auf so einem Boot zusammengepfercht wurden, oder wie viele von ihnen plärrende Kinder sein würden, die teilweise schon in ihren Halloweenkostümen steckten. Er hatte probiert, drinnen in der Kabine zu bleiben, aber bei der Hitze und dem Tumult hatte er schließlich beschlossen, sein Glück draußen auf dem offenen Deck zu versuchen.
Über die Lautsprecher wies der Kapitän auf die verschiedenen Sehenswürdigkeiten hin, an denen das Boot vorbeituckerte. Den South Street Seaport, die Brooklyn Bridge, Hell’s Gate, Gracie Mansion. Eine winzige Insel im East River, die sie passierten, erweckte Russos Aufmerksamkeit. Darauf hatte einst das städtische Krankenhaus für Pockenkranke gestanden, von dem heute nur noch ein Haufen Staub und Steine übrig geblieben war. Früher hatte man die Patienten dort hinübergefahren und dann gewissermaßen sich selbst überlassen, um zu verhindern, dass sie den Rest der Stadt ansteckten. Charles Dickens, so sagte der Kapitän, sei einmal an dieser Insel mit dem Namen Blackwell’s Island vorübergesegelt. Die Patienten hatten, zusammen mit den Insassen der benachbarten Irrenanstalt, ihm mit Hüten und Taschentüchern zugewinkt. Russo war immer überrascht, wenn er in Amerika etwas entdeckte, das älter als hundert Jahre war, und seien es Ruinen.
Als das Boot wieder anlegte, wartete Russo, bis die meisten Passagiere ausgestiegen waren, ehe er selbst das Boot verließ. Obwohl die Fahrt relativ ruhig gewesen war, fühlte es sich gut an, wieder an Land zu sein und nicht länger das Vibrieren der Motoren unter den Füßen zu spüren. Es wurde rasch dunkel, aber der lange Fußmarsch nach Hause würde ihm ein wenig Bewegung verschaffen, so dass er in der Nacht vielleicht besser schlafen könnte. Er schlief immer noch schlecht, und selbst letzte Nacht, als er halb betrunken auf das Sofa gefallen war, war er mehrmals aus bösen Träumen aufgeschreckt. Heute Abend wollte er versuchen, sich so müde wie möglich zu laufen.
Je mehr er sich dem West Village näherte, desto wilder wurde die Straßenszene. Als Vampire verkleidete Mädchen und Jungs in Cowboykleidung kamen ihm entgegen. Eine ganze Gruppe war mit braunen Roben als mittelalterliche Büßer verkleidet, sie schwenkten qualmende Räuchergefäße und geißelten sich selbst. Russo nahm an, dass es sich um eine Würdigung von Bergmans Das Siebente Siegel handelte. Den ganzen Tag über war ihm noch nicht richtig nach essen zumute gewesen, aber jetzt stellte er fest, dass er langsam etwas im Magen brauchte. Als er vor einer Art italienischer Trattoria stand, fand er plötzlich, dass ein Teller mit heißer Pasta Fagiolo jetzt genau das Richtige wäre. In Rom wohnte er über einem Lokal, in dem der Koch die beste Pasta kochte, die er je probiert hatte.
Was er schließlich vorgesetzt bekam, war kaum als Pasta erkennbar, und die Kidneybohnen hätte er an den Fingern einer Hand abzählen können. Er wusste, dass man den Amerikanern nachsagte, sie würden italienisches Essen lieben, aber warum waren sie so versessen darauf, wenn sie so ein Zeug serviert bekamen? Er zahlte die Rechnung bar, ließ ein, wie er hoffte, angemessenes Trinkgeld liegen und ging wieder nach draußen. In der letzten Stunde hatte sich die Stimmung eindeutig noch weiter aufgeheizt. Es waren noch mehr Menschen als vorher auf der Straße, gekleidet in alle möglichen seltsamen Kostüme. Drei blau angemalte Männer gingen zusammen mit einer Frau, die als Freiheitsstatue verkleidet war. Die Straßen waren mit Autos und Taxis verstopft, die laut hupend versuchten, irgendwie vorwärtszukommen. Soweit Russo beurteilen konnte, kam man zu Fuß immer noch am schnellsten voran, obwohl auch das nicht gerade einfach war.