Heute Nacht war Vollmond, ohne Zweifel ein Beitrag zu dem Irrsinn, und die Stadt erstrahlte im Lichterglanz der Ampeln, Scheinwerfer und Neonreklamen. Die roten Lichter der Polizeiwagen blinkten, und Dutzende von Feiernden trugen leuchtend grüne Ketten um den Hals oder die Stirn. Während Russo sich seinen Weg durch die Menge bahnte, kam er sich immer mehr vor wie an Karneval, mit dem Lärm, den aufwendigen Kostümen, dem Geschiebe und Gedränge. Die Luft schien ganz erfüllt von einem Gefühl der Aufregung und Erwartung, von Spannung und sexueller Erregung, von gezwungener Heiterkeit und sogar, um ganz ehrlich zu sein, dem Gefühl der Bedrohung. Als Neuankömmling in der Stadt war es interessant für ihn, das festzustellen, aber er konnte gut verstehen, warum Carter und Beth über das Wochenende aus New York weg wollten.
Als er endlich in der Nähe des Washington Square war, waren die Bürgersteige so gedrängt voll, dass er kaum noch vorankam. Ständig stieß er mit Leuten zusammen, entschuldigte sich, obwohl niemand ihn hören konnte oder sich darum kümmerte, wurde gestoßen, angerempelt und geschubst. Ein Typ mit einem Plastikbecher Bier rumste gegen ihn und verschüttete den Großteil des Biers über seinen Regenmantel, dann wuselte er ohne ein Wort oder auch nur einen Blick weiter. So gut es ging, wischte Russo das Bier ab. Vielleicht käme er schneller voran, wenn er die Hauptstraßen mied, und könnte sich auf diese Weise besser zur Wohnung durchkämpfen. Als er sich dem Bio-Gebäude näherte, bog er in eine Seitenstraße ab und beschloss, hinter dem Haus entlangzugehen.
Er bog um die Ecke des massiven Altbaus aus gelbem, längst braun gewordenem Backstein, und auf der Stelle ließ das Gedränge nach. Es gab zwar Feiernde, aber die waren ganz versessen darauf, sich wieder ins Getümmel zu stürzen. Sobald er noch einmal abgebogen war und hinter dem Ladebereich entlangging, entdeckte er nur noch wenige Nachzügler sowie den Transvestiten, der immer hier war. Ein hochgewachsener Mann in rotem Wildledermantel, der am hinteren Fenster einer im Leerlauf wartenden Limousine lehnte. Er arbeitete selbst an Halloween, und Russo fand, das habe etwas Lobenswertes an sich.
Unwillkürlich wanderte sein Blick zu den großen verschlossenen Stahltüren. Er wollte gerade wieder wegsehen, als ihm etwas ins Auge fiel. Zuerst war er nicht einmal sicher, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, aber dann merkte er, dass unter der Seitentür auf der Höhe der Laderampe ein schmaler Lichtschein hindurchschimmerte.
Er blieb stehen. Hatte er am Freitag die Scheinwerfer angelassen, als er gegangen war?
Nein. Er erinnerte sich deutlich, dass er sie ausgeschaltet hatte und sich noch einmal nach dem Laser und der Felsplatte umgedreht hatte, ehe er die Tür abgeschlossen hatte.
Konnte der Hausmeister, Hank, dort drin sein? Ziemlich unwahrscheinlich, besonders um diese Uhrzeit, fast zehn Uhr an einem Samstagabend.
Er wollte weitergehen und einfach so tun, als hätte er nichts gesehen, aber er wusste, dass er das nicht fertigbrachte. Er musste nachsehen, was dort vor sich ging. Er tastete in seiner Tasche nach dem Schlüssel und stieg die Betonstufen zur Laderampe hinauf. An der Tür blickte er noch einmal nach unten. Ja, durch den dünnen Spalt am Boden drang ein Lichtschimmer. Er legte das Ohr an das kalte Metall und hörte leise Radiomusik.
Könnte Carter unangekündigt früher zurückgekommen sein? Das, so stellte er erleichtert fest, war durchaus möglich. Russo wusste, dass Carter insgeheim hoffte, dieses Fossil könnte eine Verwandtschaft zwischen Vögeln und Dinosauriern belegen. Vielleicht war er überstürzt zurückgekommen, jetzt, wo er so nah daran war, den endgültigen Beweis für seine Lieblingstheorie zu finden. Möglicherweise war ihm langweilig geworden, schon nach einem Tag auf dem Land, und er konnte es nicht abwarten, sich wieder an die Arbeit zu machen.
Von diesem Gedanken aufgemuntert, schloss Russo die Tür auf und betrat das improvisierte Labor. Seine erste Schlussfolgerung war, dass er recht gehabt hatte. Aus dem Radio plärrte Rock ’n’ Roll, alle Deckenscheinwerfer waren eingeschaltet, und die Plastikplane, die er über das Lasergerät geworfen hatte, lag auf dem Schreibtisch.
Doch zu seiner ungeheuren Überraschung war der Laser in Betrieb und gab ein regelmäßiges schrilles Jaulen von sich. Das Gerät war verschoben worden, so dass sein Lauf direkt auf einen Abschnitt des Felsens deutete und diesen sogar beinahe berührte. Hatte Carter beschlossen, weiterzumachen und es auf eigene Faust zu versuchen? Russo war verdutzt, denn es hatte den Anschein gehabt, sie würden solche Dinge nur zusammen machen. Es gab so viel vorzubereiten, so viele Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, so viele Schritte, um zu gewährleisten, dass diese Prozedur sicher ablief und brauchbare Ergebnisse lieferte. Er und Carter waren sich von Anfang an einig gewesen, dass sie es mit einem furchtbar zerbrechlichen und explosiven Fundstück zu tun hatten, das mit größter Behutsamkeit zu behandeln war. Aber jetzt, als Russo ins Labor schaute, kam Carter mit einer dicken Schutzbrille vor den Augen von der anderen Seite des Felsens herum und ging zuversichtlich auf den Laser zu.
Nur, dass es nicht Carter war, wie er plötzlich begriff.
Dieser Typ war zu klein, und das Haar war lang und strähnig. Als er herüberblickte und Russo entdeckte, schob er die Brille hoch und sagte verlegen: »Oh, hallo. Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie heute Abend hier zu sehen.«
»Mitchell?«, fragte Russo erstaunt. »Was tun Sie hier?«
Mitchell sah aus, als fehlten ihm die Worte. Aber der summende Laser beantwortete die Frage für ihn, ohne dass er einen Ton sagen musste. Und das wusste er.
»Wie sind Sie hier hereingekommen?«, fragte Russo und durchquerte das Labor.
»Durch den Lagerraum. Ich meine, ich musste keine Schlösser knacken oder so.«
»Dies hier ist ein privates Labor. Sie haben kein Recht, sich hier aufzuhalten.«
Mitchell sah aus, als suchte er erneut verzweifelt nach einer Antwort. »Hey, Sie können so ein Geheimnis nicht lange unter Verschluss halten.« Er lächelte verschlagen. »Ein privates Labor, eine Lieferung aus Übersee, die Anforderung eines Lasers … Ich bin kein Sherlock Holmes, aber das war kaum zu übersehen.«
»Woher wussten Sie überhaupt irgendetwas davon?«, fragte Russo entrüstet.
»Ich weiß eine Menge«, sagte Mitchell, in dem sich langsam ebenfalls Zorn zu regen begann. »Und für den Fall, dass Sie es vergessen haben, ich bin hier Juniorprofessor. Ich denke, ich habe ein Recht darauf, zu wissen, was hier vor sich geht.«
»Sie sind nicht berechtigt, hier hereinzukommen und … sich in unsere Experimente einzumischen.«
»Ich muss schon sagen, Joe, Sie haben echt Nerven.« Er zog die Brille von seinem Kopf und schob sich das strähnige Haar hinter die Ohren. »Sie gehören nicht einmal zur Fakultät hier, im Gegensatz zu mir, und Sie wollen mir erzählen, was ich in diesem Fachbereich tun darf und was nicht? Ich war nett zu Ihnen, habe Sie zu meiner Party eingeladen, habe mich bemüht, freundlich zu sein. Und was ist der Dank dafür? Mit keinem einzigen Wort haben Sie mir verraten, warum Sie hier sind oder was Sie machen oder was«, dabei deutete er auf den schwarzen Felsblock, »für ein unglaubliches Ding sich in diesem Stein verbirgt.«