»Sie kommen! Sie kommen!«, rief Gil.
»Aber nichts kam, stimmt’s?«
»Das will ich doch hoffen.«
»Aber eins sag ich dir, wenn das eine Art Halloweenstreich war …«
»Was sollte es sonst gewesen sein?«, fragte Gil.
»… dann haben die Jungs einen erstklassigen Job gemacht, um das alles zu koordinieren. Wie um alles in der Welt schafft man es, jede Kirchenglocke, von der altmodischen Sorte, die immer noch ganz oben in ihrem Turm hängt, bis zu den elektronisch gesteuerten Glockenspielen in Kirchen wie der St. Patrick’s Cathedral, gleichzeitig zum Läuten zu bringen?«
»Und warum ausgerechnet um sechzehn Minuten nach zehn?«, fragte Gil sich laut. »Ich für meinen Teil hätte ja bis Mitternacht gewartet, wenn ich so etwas geplant hätte.«
»Ich kann jedenfalls sagen, wenn die Leute, die hinter diesem Halloweentrick stecken, uns jetzt zuhören, ruft uns an unter 1–800-GIL-GARY, und erzählt uns, wie ihr das durchgezogen habt. Echt eine coole Sache!«
»Total irre.«
Ben drehte das Radio leiser. »Wetten, dass da dieser Magier dahintersteckt, dieser David Blaine? Der, der schon einmal in einem Eisblock am Times Square gestanden hat?«
»Aber wenn er nicht sagt, dass er es war«, erwiderte Carter, »was für einen Zweck sollte das Ganze dann haben?«
»Vielleicht wartet er nur eine Weile, damit es um so geheimnisvoller wirkt?«
»In dieser Stadt ist das am Dienstag doch schon Schnee von gestern«, warf Abbie ein. »Er sollte sich besser schnell zu erkennen geben.«
Nach dem Verkehrsbericht ließ Ben das Radio an. Aus der ganzen Stadt riefen Leute an und schalteten sich in die Diskussion um die läutenden Glocken ein. Ein paar von ihnen unterstützten die Theorie vom Halloweenstreich, aber die meisten Anrufer plädierten zu Carters Bestürzung für eine übernatürliche, oder, um es anders zu formulieren, eine irrationale Ursache. Ein Typ behauptete, der »Geist des Houdini hat das bewerkstelligt, um zu beweisen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt«, doch die meisten bevorzugten eher traditionelle religiöse Erklärungen. Ein Mitglied der Zeugen Jehovas rief an, um zu erklären, es handele sich um ein Zeichen der bevorstehenden Apokalypse. Ein Pfarrer aus Harlem meldete sich und schlug vor, dass es vielleicht ein Warnsignal für New York sei, »das Sodom und Gomorrha unseres Landes«, um die Stadt von ihrem verderbten Weg abzubringen. Und ein Theologieprofessor von der Columbia-Universität erklärte, dass das Läuten der Kirchenglocken an Halloween ein altes Mittel sei, um Hexen abzuwehren.
»Früher dachte man«, so fuhr der Professor fort, »dass, wenn die Kirchenglocke läutete, während eine Hexe darüber hinwegflog, der Klang der Glocke sie erledigen würde wie eine Rakete.«
»Wir müssen also nichts weiter tun«, unterbrach der Moderator Gil ihn, »als in den Straßen nach abgestürzten Hexen Ausschau zu halten?«
»Nun, das können Sie natürlich gerne machen«, erwiderte der Professor, »aber ich an Ihrer Stelle würde nicht allzu viel Zeit damit verschwenden.«
»Ich glaube immer noch, dass dieser David Blaine dahintersteckt«, sagte Ben. »Hat jemand was dagegen, wenn ich den Sender wechsle? Mehr von Gary und Gils Affentheater ertrage ich nicht.«
Niemand erhob Einwände, und Ben drückte ein paar Knöpfe, ehe er den öffentlichen Sender NPR fand.
Den Rest des Weges in die Stadt hörten sie sich eine Nachrichtensendung an, in der über vernünftigere Themen gesprochen wurde. Sobald sie das West Village erreicht hatten, manövrierten sie durch die verstopften Straßen, bis sie vor Beths und Carters Wohnhaus anhielten.
»Vielen Dank, es war klasse«, sagte Beth und stieg aus dem Wagen, wobei sie vorsichtig den Kürbiskuchen balancierte.
Carter stieg auf der anderen Seite aus und lud mit Bens Hilfe ihre Taschen aus dem Kofferraum, zusammen mit einem Vorrat an Äpfeln, der bis an ihr Lebensende reichen würde.
»Iss sie nicht alle auf einmal«, sagte Ben.
»Zum Glück haben wir einen hungrigen Hausgast«, sagte Carter. »Danke für das Wochenende. Es war genau das, was der Arzt befohlen hatte.«
»Kommst du, Carter?«, rief Beth von der Treppe her. »Abbie und Ben wollen heute Abend bestimmt auch noch mal nach Hause.«
»Bis dann«, sagte Carter, nahm eine kleine Tasche in die eine und den Sack mit Äpfeln in die andere Hand.
Oben angekommen, klopfte er zuerst an, um Joe vorzuwarnen.
»Ich glaube nicht, dass er zu Hause ist«, sagte Beth. »Die Zeitung liegt immer noch auf der Fußmatte.«
Sie hatte recht. Die Sonntagsausgabe der Times ruhte mit ihren ganzen zwölf Pfund vor ihrer Tür.
Nirgends in der Wohnung brannte Licht, und als Carter es einschaltete, stellte er fest, dass Joe tatsächlich nicht hier war. Sein Bettzeug, das er normalerweise zusammengelegt unter den Couchtisch stopfte, lag immer noch auf dem Sofa und teilweise auf dem Boden. Und das Kruzifix, das er in der Nacht von Joes Ankunft gesehen hatte, hing wieder an der Wand.
Beth zerrte die Äpfel in die Küche.
»Ist da irgendwo eine Nachricht?«, fragte Carter. »Ich frage mich, wo er steckt.«
»Nichts«, sagte sie. »Keine Nachricht.« Sie kam wieder zurück. »Im Badezimmer ist er auch nicht, oder?«
»Nein«, sagte Carter.
»Bisher hat er jeden Morgen das Bettzeug weggepackt«, grummelte sie und schaute zum Sofa hinüber. »Und was ist das da an der Wand?«
Während Beth hinüberging, um einen Blick darauf zu werfen, versuchte Carter, sich einen Reim auf alles zu machen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es sah Joe gar nicht ähnlich, das Sofa in so einem Durcheinander zu hinterlassen, und es passte auch nicht zu ihm, die Zeitung auf der Fußmatte liegen zu lassen. Er las gerne Zeitung.
»Carter, hast du das hier gesehen? Ein Kruzifix. Ich wusste gar nicht, dass Joe religiös ist.«
»Ich auch nicht. Er war es auch nicht, als ich ihn in Europa kennengelernt habe.«
»Mir fällt gerade etwas ein«, sagte sie mit einem halben Lächeln. »Hast du nicht gesagt, er würde zu Bill Mitchells Party gehen?«
»Ja. Ich habe ihm die Einladung gegeben.«
»Vielleicht hat er da jemanden kennengelernt.«
»Das war Freitagabend.«
»Ich weiß, aber vielleicht haben sie die letzte Nacht zusammen verbracht, hier.« Sie sah auf die zerwühlten Decken und Laken auf dem Sofa. »Meinst du, wir hätten ihm sagen sollen, dass er gerne das Schlafzimmer benutzen kann, solange wir nicht da sind?« Vorsichtig hob sie den Saum des Lakens an und warf es zurück aufs Sofa. »Vielleicht ist er gerade bei dieser geheimnisvollen Frau.«
Das war sicherlich möglich. Carter hatte Joe zwar nicht unbedingt als Frauenheld erlebt, aber das war damals auf der Ausgrabungsstätte auf Sizilien gewesen. Hier in New York hatte er womöglich ein besonderes Prestige; hier war er ein bedeutender Wissenschaftler, der gerade aus Italien zu Besuch weilte.
»Wollen wir uns etwas vom Chinesen zu essen bestellen?«, fragte Beth. »Ich bin zu müde, um noch einmal rauszugehen.«
»Nein, so hungrig bin ich nicht«, sagte er. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne noch mal rüber zum Labor und nachschauen, ob Joe da ist.«
»Es macht mir gar nichts aus. Ich bin vollkommen erledigt. Warum geht ihr nicht noch ein wenig aus und amüsiert euch?«
Sich zu amüsieren war nicht unbedingt das, was Carter im Sinn hatte, als er die Treppe wieder hinunterstieg. Er hatte immer noch ein merkwürdiges Gefühl. Als er nach Hause gekommen war, hatte er erwartet, Joe vor dem Fernseher zu finden, die Füße hochgelegt. Stattdessen hatte er ein ungemachtes Bett vorgefunden. Dazu das Kruzifix und die Zeitung vor der Tür. Nichts davon ergab einen Sinn.
An der Ecke wartete Carter, dass es grün wurde. Vielleicht benahm er sich einfach lächerlich, und Beth hatte recht. Vielleicht war Joe auf der Party schlicht von einer Frau angebaggert worden und war jetzt mit ihr unterwegs und glücklich. Möglicherweise hatte er sie zu dieser Circle Line Cruise mitgeschleppt, die er machen wollte. Wenn sie da mitgekommen war, dann mussten sie echt verliebt sein.