Dann blätterte er zum Lokalteil der Zeitung weiter und las den Rest der Story. Es schien immer noch ein ungelöstes Rätsel zu sein, obwohl die Times Meinungen und Kommentare von solch erhabenen Quellen wie dem Diözesanrat, einer Hohepriesterin des Wicca-Glaubens und, basierend auf der Theorie, dass es sich um einen erstaunlich aufwendigen Halloweenstreich gehandelt hatte, von Penn Jillette wiedergab. Ezra glaubte keine Sekunde lang, dass es sich um einen Streich handelte. Er hatte in letzter Zeit zu viel durchgemacht und wusste nur zu gut, dass es Dinge gab, die im Traum nicht ins Weltbild der meisten Menschen passten.
Eine Mutter mit ihrer Tochter an der Hand ging an der Bank vorbei, auf der er saß.
»L’Assemble Generale est ou les delegats viennent a faire le paix l’un avec l’autre«, sagte die Mutter. Das Mädchen lächelte Ezra an, aber er vergaß, das Lächeln zu erwidern, bis sie vorbeigegangen war. Er dachte immer noch verbittert über das nach, was die Mutter gesagt hatte – dass die Vollversammlung der Ort sei, an dem die Nationen zusammenkamen, um Frieden miteinander zu schließen. Was für ein Unsinn. Als er in Jerusalem gelebt hatte, hatte er es stets als äußerst passend empfunden, dass sich das örtliche UN-Büro an dem Ort befand, der seit der Antike als Berg des Bösen Rates bekannt war.
Er blätterte zur ersten Seite des Lokalteils und sah das Bild eines brennenden Backsteingebäudes.
EXPLOSION AN DER NYU.
EIN WISSENSCHAFTLER TOT, EIN WEITERER VERLETZT.
Müßig überflog er den Artikel. Offensichtlich hatte am Samstagabend eine Explosion mit anschließendem Brand in einem Labor des Bio-Gebäudes großen Schaden angerichtet. Während immer noch unklar war, was die Katastrophe ausgelöst hatte, wurde ein Brandschutzexperte mit den Worten zitiert: »Wir untersuchen gerade eine Reihe extrem starker Scheinwerfer, die erst vor kurzem stümperhaft installiert wurden und durch unpassende Sicherungen gesichert waren.« Ein Juniorprofessor war bei der Explosion getötet worden, und ein weiterer Professor, der gerade zu Besuch weilte, wurde schwerverletzt. Ezra wollte gerade weiterblättern und zu dem Rätsel mit den Kirchenglocken zurückkehren, als ihm etwas auffiel, das wahrscheinlich niemandem sonst auffallen würde.
Es war die Übereinstimmung des Zeitpunkts.
Die tödliche Explosion hatte sich etwa gegen viertel nach zehn ereignet, nur eine Minute, bevor die Kirchenglocken zu läuten begonnen hatten. Und während niemand sonst auch nur auf die Idee kam, ein brennendes Gebäude und Glockengeläut miteinander in Verbindung zu bringen, war es genau das, was Ezra momentan die ganze Zeit tat. Er fügte die Dinge zusammen, stellte Verbindungen her, entwarf aus scheinbar nicht zusammengehörenden Fragmenten und Bruchstücken eine logische Geschichte.
Nichts beruhte tatsächlich auf Zufall. Nicht einmal die Tatsache, dass diese Zeitung vollständig auf genau dieser Bank liegengelassen worden war. Damit er sie finden und darin lesen konnte.
Einige Fragen stellten sich ihm: Erstens, hatten diese beiden Ereignisse tatsächlich irgendetwas miteinander zu tun?
Und wenn ja, ging ihn diese Verbindung irgendetwas an? Konnten diese Ereignisse in irgendeiner Weise, wie abseitig und unwahrscheinlich es auch klang, etwas mit seiner eigenen Arbeit zu tun haben?
Er versuchte, gründlich darüber nachzudenken. Versuchte, kühl und rational zu bleiben. In dem, was er tat, lag notwendigerweise ein theologischer Aspekt, und dieser Aspekt würde – oder könnte zumindest – eine Verbindung zum Glockengeläut darstellen. Traditionell wurden die Glocken geläutet, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen, um den Beginn und das Ende eines Tages anzuzeigen, um solche Dinge wie die Hochzeit eines Königs oder die Nachricht eines Schlachtsieges zu verkünden.
Aber im Laufe der Jahrhunderte waren sie auch als Warnung vor einer nahenden Katastrophe geläutet worden. Invasoren vor der Küste. Ein Feuer oder eine Flut. Der schwarze Tod.
Gab es irgendeinen Aspekt bei seiner Arbeit am verschollenen Buch Henoch, der dieses Läuten ausgelöst haben könnte? Was würde Dr. Neumann wohl von solchen Fragen halten? Innerhalb von zwei Sekunden wäre sie damit fertig. Ach, ein weiteres Symptom seines Jerusalem-Syndroms, würde sie behaupten. Ein weiterer Ausdruck der zügellosen Selbstüberhöhung, die wesentlicher Bestandteil seiner allumfassenden Wahnvorstellung sei.
Dabei wusste er Dinge, die sie nicht wusste, er sah Zusammenhänge, die sie niemals begreifen würde. Er setzte die älteste Erzählung der Welt zusammen und übersetzte, langsam und mühselig, die Worte der geheimen Schrift. Von Henoch, dem Vater Methusalems, erfuhr er die Wege des Guten und des Bösen. Es gab eine Schlacht, so hatte er letzte Nacht gelesen, um die Seele jedes Menschen. Eine Schlacht, ausgetragen zwischen zwei Engeln, und der Ausgang des Kampfes würde das Schicksal des Menschen bis in alle Ewigkeit bestimmen. War er dabei, etwas zu enthüllen, das seit vielen Jahrtausenden verschollen gewesen war? Etwas so Fundamentales für das Verständnis des Universums und unseren Platz darin, dass er die Alarmglocken ausgelöst hatte, die dann tatsächlich in der ganzen Stadt geläutet hatten? Selbst Ezra kam das weit hergeholt vor … aber es schien nicht unmöglich zu sein.
Hatte die Stimme ihm nicht ein Ja ins Ohr geflüstert? Hatte sie ihn nicht in der Einsamkeit seines Zimmers gedrängt, weiterzumachen?
Eine Touristengruppe, eindeutig aus dem Nahen Osten, schlurfte an ihm vorbei. Die älteren Frauen trugen schwarze Tschadors und Gesichtsschleier, die Männer, oder zumindest ein paar von ihnen, die arabische Kopfbedeckung. Ihr Reiseleiter plapperte Arabisch mit einem Akzent, der sich für Ezra ägyptisch anhörte. Er hatte sich richtig in Schale geworfen, trug eine sich bauschende Dschellaba und trotz des kalten Wetters offene Ledersandalen. Er ging rückwärts, wobei er der Gruppe das Gesicht zuwandte und mit den Armen wedelte. Mit lauter Stimme erging er sich in allen Einzelheiten über die Vereinten Nationen und alles Mögliche. Als die Gruppe vorbeiging, flatterten ihre Gewänder im Wind, der vom Fluss her wehte. Ezra, der sich viel auf seine Sensibilität einbildete, nahm ihren Geruch wahr, das feine Aroma von Olivenseife und Tamarindensamen, getrockneten Datteln und reifen Feigen, gekochtem Lamm und Pfefferminztee. Unwillkürlich fühlte er sich zurückversetzt in die Straßen der Heiligen Stadt. Die meisten Menschen der Gruppe schlenderten vor ihm entlang, doch ein paar gingen auch hinter der Bank vorbei. Plötzlich fühlte er sich von ihnen umzingelt, einer wabernden Masse aus schwarz gewandeten Gestalten und halb vermummten Männern, und genau wie schon einmal zuvor hörte er eine Stimme etwas in sein Ohr flüstern. Aber dieses Mal schien sie aramäisch zu sprechen. Es klang wie die Worte für: »Bring es zu Ende.«
Sein Kopf wirbelte herum, aber die Gruppe spazierte einfach nur an ihm vorbei. Niemand schien dem Mann auf der Bank besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken. Aber irgendjemand hatte gesprochen! Dieselbe tiefe Stimme, die er zuvor schon einmal gehört hatte. Ezra sprang auf die Füße.