Natürlich bedeutete das nichts im großen Ablauf der Welt. Überhaupt nichts.
Aber in diesem Moment war es gut genug, in dieser seltsamen Welt, in der er erwacht war. Dieser Ort konnte ihm als … Zuflucht dienen. Er lächelte. Das war ein gutes Wort, ein neues Wort, aufgegriffen aus der ihn umgebenden Luft.
Es gab so vieles, sinnierte er, das er haben wollte. Und er hatte vor, es sich zu nehmen.
20. Kapitel
Carter hatte nie zuvor eine Trauerrede geschrieben, schon gar nicht für jemanden, den er so wenig gekannt hatte wie Bill Mitchell. Was es noch schwerer machte, war natürlich die Tatsache, dass er ihn nicht besonders gemocht hatte. Und jetzt war es seine Aufgabe, Bills Tugenden zu loben und, so vermutete er, über die vielversprechende Zukunft zu sprechen, die vor ihm gelegen hatte. Das Labor, in dem der Juniorprofessor ums Leben gekommen war, hatte Carter persönlich eingerichtet, und aufgrund der Umstände seines Todes und der Zeitungsartikel wurde allgemein angenommen, dass sie nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch gute Kumpel gewesen waren. Nachdem Mitchells kurzes Leben ein so entsetzliches Ende genommen hatte, war es völlig unmöglich, dass Carter etwas anderes behauptete.
Das letzte Mal hatte er seinen dunkelblauen Anzug zu dem Fakultätsdinner getragen, bei dem er offiziell den Kingsley-Lehrstuhl übernommen hatte. Bei dieser Gelegenheit war er schon nervös genug gewesen, doch zumindest hatte niemand von ihm verlangt, mehr zu tun, als sich auf ein Podium zu stellen, gnädigerweise eine Ehrenplakette entgegenzunehmen und den versammelten Professoren und Verwaltungsangestellten für die ihm erwiesene große Ehre zu danken. Jetzt musste er nicht nur eine Rede halten, er musste auch dafür sorgen, dass die Erinnerung an einen Kerl in Ehren gehalten wurde, der sich selbst umgebracht und gleichzeitig Carters Freund bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hatte. Und das alles nur, weil er seine Finger nicht von Apparaten lassen konnte, von deren Bedienung er keine Ahnung hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich je damit fertig werde«, hatte er Beth anvertraut.
»Du musst aufhören, so zu denken«, hatte sie geantwortet und versucht, ihn zu beruhigen. »Es war ein Unfall. Ein furchtbarer Unfall, und niemand hat einen höheren Preis dafür gezahlt als Bill Mitchell.«
»Erzähl das Joe.«
Carter hatte sich ein paar Notizen über Mitchells Begeisterung für seine Arbeit gemacht, die Hingabe, mit der er die Studenten an der NYU unterrichtet hatte, seine Vorliebe für Rap-Musik, und er hoffte, dass er das alles an Ort und Stelle zu einem überzeugenden Ganzen würde zusammenbasteln können. Würde er auf einer Kanzel stehen? Hinter einem Rednerpult? Wo?
Fast in letzter Minute verließen sie die Wohnung, und als sie das Bestattungsinstitut der O’Banion Brothers erreichten, hatte sich in der Gedenkkapelle bereits eine erkleckliche Anzahl Trauergäste eingefunden. Carter wurde Bills Eltern vorgestellt, mit denen er bereits am Telefon gesprochen hatte. Sie waren ein phlegmatisches Paar aus dem Herzen von Queens und wirkten verständlicherweise noch völlig verstört. Bills Witwe Suzanne stellte ihm noch weitere Familienmitglieder vor. Anschließend nahm sie ihn beiseite und dankte ihm dafür, dass er sich bereit erklärt hatte, die Trauerrede zu halten.
»Ich weiß, dass Bill sehr zu Ihnen aufgeblickt hat«, sagte sie. Sie war eine blasse Blondine, an diesem Tag womöglich noch blasser als sonst, mit fast unsichtbaren Wimpern. »Er sprach immer von Ihrer Arbeit auf Sizilien, und wie Sie es geschafft haben, sich einen Namen zu machen.«
Jetzt fühlte sich Carter noch mieser.
»Und ich weiß, dass er sich auf den Tag gefreut hatte, an dem Sie beide zusammen an einem Projekt arbeiten würden.« Eine Träne erschien in ihrem Auge, und sie tupfte sie mit einem zusammengeknüllten Taschentuch weg. »Ich schätze, das war es, was diese Katastrophe ausgelöst hat. Er konnte einfach nicht warten.« Die Tränen begannen zu fließen. »Das war so typisch für Bill. Er konnte nie auf irgendetwas warten.«
Ein gequälter Schluchzer schüttelte sie, und Carter legte ihr instinktiv den Arm um die Schultern, was es nur noch schlimmer zu machen schien. Ehe er recht wusste, was er tat, hatte er sie an sich gezogen, und sie schluchzte in sein Jackett. Beth warf ihm einen mitfühlenden Blick zu und schlenderte davon, um mit einem der anderen Fakultätsmitglieder zu reden, die zur Trauerfeier gekommen waren. Ein paar Minuten später bat der Bestatter, zu Carters großer Erleichterung, die Trauergäste, Platz zu nehmen.
Ganz vorn in der kleinen Kapelle stand der Sarg auf einer mit rotem Stoff behängten Tragbahre. Der Deckel war natürlich geschlossen. Carter hatte gehört, dass Mitchells Körper von der Explosion in Stücke gerissen worden war. Einige Teile waren, ebenso wie Stücke seiner Kleidung oder seine Schuhe, überhaupt nicht wiedergefunden worden. Als Suzanne stockend ins Mikrophon sprach, das am Rednerpult befestigt war, fragte Carter sich, wie viel von ihrem Mann genau eingesammelt und wie die Teile für die Beerdigung vorbereitet worden waren. Er begriff, dass es makaber war, was er da tat, aber angesichts seines Berufs war es vielleicht auch nicht weiter überraschend. Knochen waren sein Job, sogar sein Spitzname bezog sich darauf, und vielleicht war es die einzige Möglichkeit, mit so etwas Bizarrem umzugehen, indem er es mit dem gewohnten Abstand betrachtete.
Nachdem Bills Witwe fertig war, stand sein Vater auf, um ein paar Worte zu sagen. Langsam las er sie von einem zerknitterten Stück Papier ab, und Carter hatte den Eindruck, dass er sie ebenso mühevoll aufgeschrieben hatte. Er war nicht der Typ, um über seine Gefühle oder Erinnerungen zu sprechen, und es nun bei der Trauerfeier seines eigenen Sohnes vor all diesen Fremden tun zu müssen, war sicherlich mehr, als er bewältigen konnte.
Carter war als Nächster an der Reihe, und er verstand seine Aufgabe so, dass er für die große Welt sprechen und allen versichern sollte, dass Bill auch in der akademischen Welt respektiert und bewundert worden war. In den heiligen Hallen der Wissenschaft, in denen er gehofft hatte, sich einen Namen zu machen. Als Carter das Podium betrat, dachte er, dass er dank Bills Frau endlich ein Thema für seine Rede gefunden hatte. Als sie gesagt hatte, dass Bill niemals warten konnte, dass er stets versucht hatte, die Dinge zu beschleunigen, hatte sie ihm ein Stichwort geliefert, mit dem er alles andere verknüpfen konnte.
Bill Mitchell, begann Carter, sei ein junger Mann in ständiger Eile gewesen. »Er hatte es bereits weit gebracht. Er war eines der jüngsten Mitglieder des Fachbereichs und zweifelsohne das wissbegierigste, und er war bereits dabei, in Rekordgeschwindigkeit noch größere Leistungen zu vollbringen.« Während er sprach, erwärmte er sich langsam für seine Aufgabe. Je länger er sprach, desto lieber mochte er den armen Kerl. Außerdem stellte er fest, dass die Erfahrung, eine Trauerrede zu halten, einer Vorlesung vor Studenten im Hörsaal verdächtig ähnelte. Mittlerweile war das Reden in der Öffentlichkeit für ihn zur zweiten Natur geworden. Während er aus dem Stegreif auf die vielen Tugenden und Erfolge von Bill Mitchell zu sprechen kam, konnte er sich sogar in der Kapelle umschauen und registrieren, wer alles da war, wen er kannte und wen nicht.
Eine Menge Leute aus dem Fachbereich waren gekommen, einschließlich des Leiters Stanley Mackie, zusammen mit ein paar anderen Gesichtern, die er hin und wieder auf dem Campus gesehen hatte. Dann waren da Mitchells Verwandte und Freunde, die er natürlich nicht kannte. Ein Typ, der zu keiner der beiden Gruppen zu gehören schien, saß ganz für sich allein auf einer der letzten Bänke. Er trug einen zerknitterten blauen Anzug sowie einen schwarzen Rollkragenpullover und sah aus, als hätte er seit einer Woche nicht geschlafen. Er hatte etwas so Feierliches und Zurückhaltendes an sich, dass Carter nach genauerem Nachdenken zu dem Schluss kam, dass er für das Bestattungsinstitut arbeiten musste. Er hatte das Aussehen eines professionellen Trauergastes.