Zitternd stellte er den Kragen seiner Lederjacke auf. Langsam wurde es Zeit, den Parka hervorzuholen. Obwohl es erst Spätnachmittag war, war das Licht bereits ziemlich spärlich. Die Tage wurden kürzer. An der Ecke vierte Straße West wartete er gerade an der Ampel, als er plötzlich das Gefühl hatte, jemand stünde rechts hinter ihm. Und beobachtete ihn. Er drehte sich um, aber der nächste Fußgänger war eine ältere Frau mit einer Gehhilfe, die den Blick auf das Pflaster gerichtet hatte.
Er überquerte die Straße und schritt für den Rest des Heimwegs forsch aus. Nicht nur, um warm zu werden, sondern auch, um dieses unheimliche Gefühl abzuschütteln, jemand folge ihm. Ein-oder zweimal drehte er sich abrupt um, doch niemals sah er einen Verdächtigen. Als er das Foyer seines Hauses betrat, blieb er stehen, um die Post aus dem kleinen Metallbriefkasten zu holen. Diese Briefkästen, dachte er, waren offensichtlich lange vor der Zeit der Versandkataloge entworfen worden. Anstatt auf den unzuverlässigen Fahrstuhl zu warten, entschied er sich für die Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal.
Beth war nicht zu Hause, und in der Wohnung war es dunkel. Er ging von Zimmer zu Zimmer, schaltete die Lampen an und legte eine CD der Hives in die Stereoanlage. Er wollte peppige schnelle Musik, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Er riss den Kühlschrank auf, nahm ein Bier heraus und ging ins Wohnzimmer. Er lümmelte sich aufs Sofa und streckte die Beine aus. Über seinem Kopf sah er die Vogelbilder von Audubon. Von denen Joe eines abgenommen hatte, um es durch ein Kruzifix zu ersetzen. Worum, fragte er sich, ging es hier eigentlich wirklich? Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, und jetzt wäre es ganz eindeutig keine gute Idee.
Vielleicht sollte er nach dem Abendessen noch einmal im Krankenhaus vorbeischauen, nur um gute Nacht zu sagen.
Er hob eine Ausgabe des New York Magazine vom Boden neben dem Sofa auf und begann darin zu blättern. Vielleicht entdeckte er eine Empfehlung für ein Downtown-Restaurant, das Beth und er heute Abend ausprobieren konnten, irgendein überfülltes und lautes Lokal. Doch kaum hatte er das Heft aufgeschlagen, als er jemanden draußen vor der Wohnungstür hörte. Er hielt die Zeitschrift ganz still und lauschte. Für Beth war es noch ein wenig zu früh. Raleigh bestand darauf, dass seine Angestellten die volle Zeit im Laden absaßen. Doch als Carter vom Sofa aufstand, schwang die Tür auf, und Beth trat ein, ihren Lederkoffer in der einen und eine ausgebeulte Plastiktüte in der anderen Hand, aus der es verdächtig nach chinesischem Essen roch.
»Lass mich das nehmen«, sagte er und eilte herbei, um ihr die Tüte abzunehmen, die jeden Moment zu reißen drohte.
»Danke«, sagte Beth und schloss die Tür hinter sich mit einem Fußtritt. Dann drehte sie den Schlüssel im Schloss um und legte den Riegel vor. Anschließend spähte sie durch den Spion.
»Heute Abend bist du aber besonders vorsichtig«, sagte Carter und stellte die Tüte auf den Küchentresen.
»Na ja, ich habe unten einen ziemlichen Schrecken bekommen.«
Carter ließ die Tüte Tüte sein und ging zu Beth.
»Was ist passiert?«
»Eigentlich nichts. Ich habe einfach nicht aufgepasst, als ich ins Haus gekommen bin.«
Carter wartete.
»Ich trug den ganzen Krempel, und ich war schon im Foyer, ehe ich begriff, dass jemand da war. Normalerweise bin ich aufmerksamer.«
»Wer war es?« Carter dachte an sein Gefühl, auf dem Weg nach Hause verfolgt zu werden.
»Ich weiß nicht, ich konnte ihn nicht besonders gut erkennen.« Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn an den Holzständer neben der Tür. »Ich glaube, er wollte nicht, dass ich ihn ansehe. Er war groß, blond, glaube ich, und trug eine Sonnenbrille. Beinahe sofort, nachdem ich das Haus betreten hatte, drehte er sich um und verließ das Foyer. Ich wollte gerade die Post holen.«
»Ich habe sie bereits geholt«, sagte Carter wie betäubt.
»Gut, weil ich nicht mehr nachgesehen habe. Er stand direkt davor. Ich könnte sogar schwören, dass er mit dem Finger über unsere Namen auf dem Briefkasten fuhr.«
Carter fühlte einen eisigen Schauder und schloss Beth instinktiv fest in die Arme.
»Es geht mir gut«, sagte sie mit einem nervösen Lachen, »wirklich. Sobald ich meinen Schlüssel in die Tür zur Lobby gesteckt habe, ging er nach draußen und die Treppe hinunter.«
»Hast du gesehen, wohin er gegangen ist?«, fragte Carter.
»Es sah aus, als sei er über die Straße in den Park gegangen, aber ich habe nicht gewartet, um es herauszufinden.«
Carter ließ Beth los und rannte zum vorderen Fenster, das zum Park hinaus zeigte. Die Straßenlaternen waren noch nicht eingeschaltet, und in der Abenddämmerung war es schwer, viel zu erkennen. Ein paar Inlineskater zogen noch ihre Runden auf den Fußwegen, ein Mädchen im Teenageralter führte einen Hund spazieren, und ganz hinten verließ gerade eine hochgewachsene Gestalt im roten Mantel den Park durch den anderen Eingang.
Carter schnappte sich seine Lederjacke vom Garderobenständer und entriegelte hastig die Tür.
»Wo willst du hin?«, fragte Beth alarmiert. »Du wirst doch wohl nicht etwa nach dem Kerl suchen?«
»Ich habe ihn gesehen«, sagte Carter, sperrte die Tür auf und rannte hinaus.
»Aber ich habe dir doch gesagt«, erklärte Beth, obwohl sie ihn bereits die Treppe hinunterstürzen hörte, »dass er eigentlich gar nichts gemacht hat!«
Sie hörte Carters Füße auf dem Treppenabsatz landen, dann die nächsten Stufen hinunterrasen. Sie eilte zur Tür und rief: »Carter! Vergiss die ganze Sache doch einfach!«
Sie hörte, wie die Tür zum Foyer aufgerissen wurde und anschließend krachend ins Schloss fiel.
»Mach keinen Mist, Carter«, rief sie ins leere Treppenhaus hinein. Sie stand an der offenen Wohnungstür und dachte Und jetzt? Sie bedauerte, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte.
Sie schloss die Tür und lehnte den Kopf von innen dagegen. Warum regte sich Carter nur so darüber auf? Ihr kam der Gedanke, dass sie es hier womöglich mit einer klassischen Verdrängungsreaktion zu tun hatte. Vielleicht hatte er die schlechte Nachricht vom morgendlichen Termin in der Praxis noch nicht ganz verdaut, und jetzt bahnten sich die Frustration und die aufgestaute Energie ihren Weg in alle möglichen unpassenden Richtungen … wie zum Beispiel diese.
Sie verschloss alle Schlösser bis auf den Türriegel und ging in die Küche, um das chinesische Essen wegzuräumen. Zumindest hatte sie ihm nichts von der unheimlichsten Sache überhaupt erzählt. Sie könnte schwören, dass der Typ, als er hinter ihr im Foyer gestanden hatte, in der Luft herumgeschnüffelt hatte. Wie ein Hund, der einen neuen Geruch aufnimmt.
Als Carter den Park endlich erreicht hatte, war seine Jagdbeute verschwunden. Er rannte zur anderen Seite des Parks, wich einigen Autos aus und lief in die Richtung weiter, die der Kerl eingeschlagen zu haben schien. Weit vor sich, vielleicht zwei Blocks entfernt, meinte er, etwas Rotes zu erblicken, eine Sekunde bevor ein Bus ihm für den Moment den Blick versperrte.
Er beschleunigte seine Schritte, aber als der Bus weiterfuhr, war der rote Fleck verschwunden. Der Kerl konnte nach links oder rechts abgebogen sein, aber Carter entdeckte in keiner Richtung etwas, das nach ihm aussah. Er rannte geradeaus, und wieder meinte er, den roten Mantel zu erkennen, der gerade beim Obsthändler auf der anderen Straßenseite um die Ecke bog. Aber die Ampel war gegen ihn, und als sie endlich ein Einsehen hatte und er die Straße überqueren konnte, war der Kerl ihm schon wieder entwischt. Aber zumindest wusste er, in welche Richtung er verschwunden war. Carters Atem ging stoßweise, und er wünschte, er hätte nicht ausgerechnet seine abgetragenen Slipper an. Trotzdem rannte er weiter, schlängelte sich tänzelnd durch die anderen Menschen auf dem Gehweg. Nicht lange, und er fand sich in einer schmerzlich vertrauten Ecke wieder. Genau auf der anderen Seite der breiten Straße befand sich der Haupteingang des St. Vincent’s Hospital.