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Und nirgends eine Spur von dem roten Mantel.

Mit einer Hand stützte er sich am Straßenschild ab, sah sich um und holte keuchend Luft.

Es war dieselbe Stelle, an der Ezra Metzger ihn nach der Beerdigung abgesetzt hatte. Er stand vor dem Grundstück, auf dem demnächst Villager-Genossenschaftswohnungen errichtet würden, wie die Plakatwand verkündete. Der Tag mochte vielleicht nicht mehr fern sein, aber im Moment war es ein dunkler und dreckiger Schandfleck. Ein verbogener, durch eine Kette gesicherter Zaun umgab das leere, verlassene Gebäude aus schäbigem braunem Klinker. Carter blickte auf die brüchigen Stufen, die zerbrochenen, mit Sperrholz vernagelten Fenster, die verzierte, aber trostlose Fassade aus der vorletzten Jahrhundertwende. Der Haupteingang war kreuz und quer mit schweren Bohlen vernagelt und mit einem Warnschild

BETRETEN VERBOTEN

versehen. Darüber hing an einer einzigen Schraube ein verrostetes Metallschild. Obwohl es mit Graffiti bedeckt war, konnte Carter die Worte MEDIZINISCHES ZUBEHÖR erkennen. Interessanter jedoch war die Inschrift hinter dem halb abgefallenen Schild, die in den Stein der ursprünglichen Fassade eingemeißelt war:

NEW YO K SANATOR M FÜR TUBER UL SE

UND INFEKT NSKRAN HEIT N.

Man musste nicht regelmäßig Das Glücksrad sehen, um den Namen zu vervollständigen: New York Sanatorium für Tuberkulose und Infektionskrankheiten. Unter den eingemeißelten Buchstaben stand das Gründungsjahr: 1899.

Auf Carter wirkte das Gebäude wie aus einem Roman von Dickens. Wie lange es wohl in Betrieb gewesen war, ehe man es dem endgültigen Verfall preisgegeben hatte? Die Reinkarnation als Lager für medizinisches Zubehör jedenfalls schien auch schon eine ganze Weile zurückzuliegen. In Manhattan gab es nicht mehr viele Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, und auch dieses hier würde bald dran glauben müssen. Normalerweise tat es Carter leid, diese alten Häuser verschwinden zu sehen, zu sehen, wie die Geschichte der Stadt ausgemerzt und durch seelenlose gläserne Wolkenkratzer und Wohntürme für Yuppies verdrängt wurde. Dieses spezielle Gebäude jedoch strahlte etwas aus, von dem er bezweifelte, dass es jemand vermissen würde. Selbst wenn er nicht gewusst hätte, welchem Zweck es ursprünglich einmal gedient hatte, hätte er es öde und entmutigend gefunden. Unheilvoll, wenn er ganz ehrlich war.

Aber es gab kein Zeichen von dem Mann in dem roten Mantel, weder hier noch sonst wo. Entweder hatte Carter ihn verloren, oder der Kerl hatte ihn bewusst abgeschüttelt.

Ein kalter Wind pfiff die Straße entlang, und Carter zitterte. Ein Krankenwagen mit rotierenden Lichtern bog in der Ferne um die Ecke und näherte sich dem Eingang zur Notaufnahme.

Er überquerte die Straße und dachte an das chinesische Essen, das Beth mitgebracht hatte. Die Aussicht darauf war verdammt verlockend. Er blieb noch einmal stehen und blickte zurück zu dem verlassenen Gebäude mit den verbarrikadierten Fenstern. Die massiven Wände sahen aus, als würden sie meditieren. Plötzlich hatte er das unerklärliche Gefühl, dass das Haus selbst, heruntergekommen, unbewohnt und kurz vorm Zusammenfallen, seinen Blick erwiderte. Verrückt, er wusste es, aber so war es. Er wandte sich ab und ging davon. Ein Zitat, möglicherweise von Nietzsche, schoss ihm durch den Kopf. Wie ging es noch genau? Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Wie wahr.

23. Kapitel

»Und Henoch sah, eingereiht inmitten der Engel, jene, die bekannt waren als die Wächter. Ihr Haar glich gehämmertem Gold, ihre Gewänder … Ihre Augen, welche sie niemals schlossen, waren tief wie Brunnen in der Wüste. Sie wachten über die … der Menschen und lehrten sie viele Dinge.«

Ezra war erfreut, wie sich die Stücke der Schriftrolle zusammenfügten. Es war eine mühsame Arbeit, aber er hatte gerade einen weiteren zerfledderten Schnipsel gefunden, der sich genau an der richtigen Stelle ordentlich in den Text einzufügen schien, als er ein Klopfen an der nächsten Tür, der Schlafzimmertür, hörte.

Verdammt. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um gestört zu werden.

Er ignorierte das Klopfen, aber es ertönte erneut, und dieses Mal hörte er Gertrude, die mit leiser Stimme aus dem Korridor rief: »Ezra, da ist ein Anruf für dich.«

Ein Anruf? Ezra hatte nicht einmal eine eigene Telefonnummer. Wer sollte ihn auch anrufen? Und was Freunde anging … Dann dämmerte es ihm, wer es sein könnte, und ohne auch nur die Latexhandschuhe auszuziehen, sprang er von seinem Zeichentisch auf, rannte ins nächste Zimmer und riss die Tür auf.

»Es ist ein gewisser Carter«, sagte Gertrude und hielt ihm das schnurlose Telefon hin.

»Hier ist Ezra«, sagte er und scheuchte die neugierige Gertrude fort. »Carter Cox?«

»Ja.«

Er klang nicht gerade freudig. Trotz der einsilbigen Antwort spürte Ezra, dass Carter ihn nur widerwillig anrief.

»Ich hatte gehofft, dass Sie anrufen«, sagte Ezra, um ihn weiter zu ermutigen.

»Und ich hatte gehofft, ich bräuchte es nicht.«

»Aber jetzt haben Sie es getan, und das ist alles, was zählt. Sie haben also über das nachgedacht, was ich im Wagen gesagt habe? Das ist gut. Das ist ein Anfang.«

Carter räusperte sich und sagte: »Ja. Nun ja, vielleicht.«

»Wann wollen wir uns treffen? Um zu reden?«

»Ich habe heute zum Lunch Zeit«, sagte Carter. »Und wenn Sie Lust hätten, nach Downtown in den Fakultätsclub der NYU zu kommen, würde ich Sie gerne einladen.«

Nein, dachte Ezra, das klang entsetzlich. Außerdem hatte Kimberly vor, sich heute von Onkel Maury auf eine Einkaufstour fahren zu lassen, so dass ihm nichts anderes übrigbliebe, als ein Taxi zu nehmen. Ob er damit wohl die Auflage vom Gericht verletzte, ständig erreichbar zu sein?

»Wie wäre es«, sagte Ezra, plötzlich ganz beflügelt, »wenn Sie hierherkämen? Ich könnte einen Lunch zubereiten lassen, und wir könnten uns absolut ungestört unterhalten.«

Es gab eine Pause, dann sagte Carter: »Also gut, danke. Wo wohnen Sie?«

Ezra gab ihm die Adresse und legte auf. Anschließend stand er stocksteif da und dachte nach. Was hatte Carter schließlich doch noch dazu gebracht, die Nummer zu wählen, die er auf einen Fetzen Papier gekritzelt hatte? Er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Und jetzt war der Anruf gekommen. Was sagt man dazu! Dinge, die womöglich größer waren, als selbst er, Ezra, es sich vorstellen konnte, waren erneut in Bewegung gesetzt worden. Wenn es tatsächlich einen größeren Plan gab, hatte er vielleicht gerade einen kurzen Blick darauf erhascht.

Dem Anlass zu Ehren duschte Ezra, rasierte sich und zog einen frischen schwarzen Rollkragenpullover an. Als Carter eine Stunde später eintraf, wartete er bereits im Foyer auf ihn, um ihn zu begrüßen. Carter, das merkte er, war einen Moment lang überrascht von der prunkvoll ausgestatteten Wohnung. Die Skulpturen von Rodin, die gewölbten Decken, der Ausblick aus dem Penthouse. Ezra war natürlich daran gewöhnt.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er, nahm ihm die Lederjacke ab und reichte sie Gertrude, die wie eine Mutterglucke um sie herumschwirrte. »Folgen Sie mir«, sagte er und führte seinen Gast über den polierten Marmorfußboden. »Wir werden im Esszimmer speisen. Dort haben wir vollkommene Ruhe.« Doch dann hörte er Kimberlys Stimme, die gerade auf sie zukam, und er blieb stehen. Sollte sie nicht schon längst zum Shoppen sein?