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Gemma Malley

Das letzte Zeichen

Die Verschwundenen

Aus dem Englischen von Gabriele Burkhardt

DIE AUTORIN

Foto: © Daniel Snyder

Gemma Malley wusste schon als Kind, dass sie später Autorin werden würde. Sie studierte Philosophie in Reading, wo sie sich einer Band anschloss, mit der sie in Frankreich und Japan auf Tournee ging. Anschließend arbeitete sie als Journalistin und Beamtin, bevor sie sich endgültig dem Schreiben zuwandte. Gemma Malley lebt mit ihrer Familie in London.

Weitere lieferbare Titel der Autorin bei cbt:

Das letzte Zeichen (30817)

cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe September 2013

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2013 by Gemma Malley

Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Disappearances« bei Hodder & Stoughton, einem Teil der Hachette UK Verlagsgruppe, London.

© 2013 für die deutschsprachige Ausgabe bei cbj/cbt Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Übersetzung: Gabriele Burkhardt

Lektorat: Monika Hofko, Scripta Literaturagentur München Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München Umschlagmotiv: Shutterstock Images (Oksa, Silver Tiger) Umschlaggestaltung: Basic-Book-Design, Karl Müller-Bussdorf/init.büro für gestaltung, Bielefeld KK · Herstellung: kw

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering ISBN: 978-3-641-09324-2

www.cbt-jugendbuch.de

Für Abigail und Johnnie

Im Krieg gelangt der Staat zu wahrer Größe: Er gewinnt an Macht, an Zahl, an Stolz und hat die absolute Herrschaft über Wirtschaft und Gesellschaft.

Murray Rothbard, 1963

Vorwort

Thomas sah seinen Chef herausfordernd an. »Der Typ ist ein Genie, und Sie wollen, dass ich ihn feure?«

»Er ist sechzehn. Mit sechzehn ist man kein Genie. Und selbst wenn, er ist noch ein Kind. Gib ihm ein paar Jahre, bis er erwachsen ist.«

Thomas bekam einen starren Gesichtsausdruck, wie immer, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen konnte. Wen kümmerte schon das Alter? Er selbst war erst neunzehn, und in der Computerwelt fühlte er sich wie einer aus der alten Garde, der krampfhaft versuchte, mitzuhalten. Mit sechzehn war man kein Kind mehr. Mit sechzehn war man im besten Alter.

Aber niemand sonst begriff das. Alle sahen nur, dass das »Kind« sich aufplusterte, dass es sein Ding durchzog und sich nicht darum scherte, was die anderen dachten. Und dann war da noch der kleine Vorfall mit dem FBI …

Prosser setzte sein onkelhaftes Lächeln auf, mit dem er normalerweise jeden entwaffnete. »Er muss einfach noch ein bisschen erwachsen werden«, meinte er mit einem leichten Achselzucken. »Er muss lernen, dass wir uns nicht auf diese Weise in die Privatsphäre der Leute einmischen dürfen. Wir halten uns hier an die Regeln.«

»Privatsphäre?« Thomas sah ihn ungläubig an. »Kapieren Sie denn nicht? Keiner kümmert sich heutzutage noch um die Privatsphäre. Die gibt es nicht mehr. Und was diesen Burschen angeht … der ist allen um Jahre voraus. Er sagt uns nicht nur, was die Leute kaufen, er kann uns auch sagen, was sie denken und warum. Das ist die Zukunft. Um die Arbeit, die er heute macht, werden sich einmal alle reißen.«

»Und trotzdem werden wir ihn gehen lassen«, sagte Prosser ruhig, aber bestimmt, mit dem unverwechselbaren Ich-bin-der-Boss-und-du-solltest-dich-lieber-daran-gewöhnen-Ausdruck im Gesicht, den Thomas so hasste. »Herrgott noch mal, er hat sich in FBI-Files gehackt!«

»Er hat dazu gerade mal fünf Minuten gebraucht«, erwiderte Thomas und verschränkte die Arme. »Fünf Minuten, Prosser.«

Prossers Gesicht wirkte wie versteinert. »Sonst noch was?«

Thomas schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Prosser kapierte es einfach nicht und würde es nie kapieren. Die anderen sahen nicht, was Thomas sah, nämlich dass in dem Verstand des Jungen die Zukunft lag, dass dessen unglaubliche Ideen alles revolutionieren würden. Die anderen erkannten nicht die unglaublichen Möglichkeiten, die sich ihnen dadurch bieten würden.

Sie waren blind.

Nur Thomas nicht.

Er drehte sich um und verließ das Büro seines Chefs. Sobald Prosser ihn nicht mehr durch die Glasscheiben seines Büros sehen konnte, lief er rasch durch den Flur, die Treppe hinunter und über den Korridor, der zu seiner Abteilung führte. Thomas öffnete die Tür des Großraumbüros, dem er vorstand, blieb ein paar Minuten stehen und beobachtete den Jungen, das Genie. Dieser surfte gerade auf Websites mit Autos, mit Luxusautos. Thomas hatte ihn eigentlich noch nie richtig arbeiten sehen, und einen Moment lang war er fast neidisch, weil er und der Junge anscheinend so wenig gemeinsam hatten; weil Arbeit für Thomas ständige Plackerei bedeutete, um vorwärtszukommen. Aber der Junge … Der lebte in einer ganz anderen Welt als Thomas. Wer so begabt war, dessen Arbeit wurde nicht in Stunden oder Minuten gemessen, sondern nach Produktivität bewertet. Er konnte in einer Minute mehr leisten als andere in einer ganzen Woche. Thomas hatte ihn monatelang beobachtet und ihm gleich, nachdem er die Schule beendet hatte, eine Arbeit angeboten, damit er Berufserfahrung sammeln konnte. Und nun sollte er ihn verlieren? Nein, ausgeschlossen.

Vorsichtig ging Thomas zu dem Jungen hin. »Na, wie läuft’s denn so?«, fragte er.

Der Junge zuckte die Schultern. »Ganz gut.« Er klickte die Mercedes-Website weg und widmete sich wieder seiner eigentlichen Arbeit, dem Programmieren.

Thomas nickte, zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Wie lange noch bis zum Start?«

»Start?« Der Junge sah ihn spöttisch an, aber Thomas ließ sich nicht verunsichern. Die meiste Zeit seines Lebens war er verspottet, ignoriert und ausgelacht worden; man hatte ihn als Trottel, Streber und dergleichen beschimpft. Aber das kümmerte ihn jetzt nicht mehr. Es war ihm nicht mehr wichtig, cool und beliebt zu sein. Wenn man Macht hatte, spielte es keine Rolle, ob die Leute einen mochten. Und er würde Macht haben. »Unser kleines Projekt«, sagte er. »Das Programm, über das wir gesprochen haben. Wann ist es fertig?«

Der Junge zuckte die Schultern. »Ich hab doch schon gesagt, das wird nie was.«

»Nie?« Thomas spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Wie kannst du so etwas sagen, natürlich wird es was. Wie lange brauchst du? Brauchst du mehr Hilfe? Ich kann dir Hilfe beschaffen.«

»Es hat wirklich keinen Sinn«, meinte der Junge, und es schien ihm gar nichts auszumachen. Wie konnte er nur so gleichgültig sein?

Thomas räusperte sich. »Natürlich hat es einen Sinn. Was du hier machst, ist unglaublich. Mehr als unglaublich. Es muss unbedingt umgesetzt werden. Die anderen verstehen das nicht, aber ich schon. Ich werde dich aus eigener Tasche bezahlen. Arbeite für mich. Ich richte dir ein Büro ein, wo du willst …«

Der Junge seufzte, drehte seinen Stuhl herum und sah Thomas ins Gesicht. »Vergiss es, Thomas. Sieh mal, es hat Spaß gemacht, aber mir ist klar, dass man mich hier raushaben will. Das ist schon okay. Und der Tee schmeckt sowieso scheiße. Man braucht eine Teekanne und frische Teeblätter.«

»Ich besorge alles«, sagte Thomas und versuchte, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. »Du musst deine Arbeit zu Ende bringen.«

»Warum?« Der Junge durchbohrte Thomas mit seinem Blick, als könnte er dessen Gedanken lesen.