»Das hätte er vielleicht«, entgegnete Evie. »Aber falsche Schlüsse hat er trotzdem gezogen, oder? Er denkt, du setzt das Datum für unsere Hochzeit fest.«
»Das mag wohl sein, ja«, meinte Lucas vorsichtig.
Evie wollte ihn schütteln, ihn anschreien, um ihn zu irgendeiner Reaktion zu bewegen. Aber sie wusste, dass er zu so etwas nicht fähig war. Wie Raffy gesagt hatte – er war eine Maschine. Ein seltsamer, gefühlloser Maschinenmensch. Also würde sie sich auf das konzentrieren, was wichtig war: darauf, warum sie ihren Vater angelogen hatte.
»Sag mir die Wahrheit über Raffy«, verlangte sie. »Was hast du mit ihm gemacht? Er ist nicht krank. Ich weiß, dass er nicht krank ist. Sag es mir, oder ich erzähle meinem Vater, dass du hier herumgeschnüffelt hast. Spionierst du ihm nach? Dann verschwendest du deine Zeit. Er ist ein guter Mensch. Mein Vater ist Schlüsselhüter.«
Lucas ging auf sie zu, bis sie nur noch ein kleines Stück voneinander entfernt waren. Evie konnte keine Spur von Angst mehr in seinen Augen sehen; da war wieder nichts als Blau. »Ich weiß, dass dein Vater ein guter Mensch ist. Deshalb hat er auch so viele Medaillen. Und deswegen bin ich auch hier, wenn du dich erinnerst. Ich schnüffle nicht herum, ich bewundere nur seine Medaillen«, sagte er sanft. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er allzu beunruhigt ist. Ich habe vielleicht meine guten Manieren vergessen, vielleicht gegen eine Benimmregel verstoßen, aber ich glaube, dein Vater würde das verstehen. Ob er auch so viel Verständnis dafür hätte, dass du nächtliche Besuche von meinem Bruder bekommst, ist etwas ganz anderes.«
Sie trat einen Schritt zurück. Sie zitterte. Sie hatte sich so stark gefühlt, so schlau, und jetzt war das alles wie weggeblasen, schon beim ersten Windhauch. Sie sah zu Lucas auf und wusste, dass sie ihn mehr hasste, als sie je für möglich gehalten hätte, dass man jemanden hassen könnte, auch wenn er ein A war. Gerade weil er ein A war. As sollten doch gute Menschen sein – die besten Menschen –, aber Lucas … Sie atmete tief aus. Raffy hatte recht. Die Stadt war verdreht. Oder, was wahrscheinlicher war, sie selbst war verdreht. Jedenfalls war sie sich sicher, dass sie sich unter lauter Ds bedeutend wohler fühlen würde.
»Du musst meinem Vater irgendetwas sagen«, meinte sie und wandte sich ab. Sie hatte verloren, aber sie war entschlossen, es sich nicht anmerken zu lassen. »Er erwartet es.«
»Ich werde ihm erklären, dass diese Dinge Zeit brauchen«, stimmte er zu und ging zur Tür. »Danke, Evie. Wir müssen das wieder tun.«
Und mit diesen Worten verließ er das Arbeitszimmer. Sie hörte, dass er noch kurz mit ihren Eltern sprach, dann war er fort.
»Hattet ihr ein gutes Gespräch?«, fragte ihr Vater. Evie fuhr zusammen vor Schreck, als er zurück ins Arbeitszimmer kam.
Evie nickte, weil sie ihrer Stimme nicht traute.
»Gut«, antwortete er. »Aber nächstes Mal nicht in meinem Arbeitszimmer, Evie. Lucas gehört noch nicht zur Familie.«
»Ja, Vater. Es tut mir leid.« Sie sah zu Boden und ging dann langsam und schwerfällig die Treppe hinauf und ins Bett.
8
Der Bruder stand, als Lucas an die Tür klopfte. Er stand gern, wenn er wichtige Neuigkeiten mitzuteilen hatte. Er hatte das Gefühl, dass ihm das etwas Feierliches gab. Er sah dann so aus und, als ob er die Nachricht sehr ernst nehmen würde. Das hieß auch, dass derjenige, dem er die Nachricht übermittelte, schnell wieder draußen war, weil er keinen Stuhl zum Festhalten hatte.
»Lucas.« Lucas’ Miene war unergründlich, als er durch den Raum ging, so wie immer. Aber vielleicht war sie ja doch zu ergründen. Vielleicht gab es da einfach keine Gefühle, die man hätte ergründen können.
»Bruder.« Lucas suchte nicht den Raum ab nach einem Stuhl, wie die anderen es oft taten, sondern ging quer durch den Raum auf den Bruder zu, in aufrechter Haltung, so wie immer, und mit Augen, die an einen strahlenden Sommerhimmel erinnerten, nur ohne die Wärme, die die Sonne verlieh. Der Bruder fand diese Augen fast beunruhigend, aber er würde sie nicht anders wollen. Lucas war loyal, ergeben und er stellte keine Fragen. Ein Musterbürger. Der beste Mann, den er hatte.
»Ich habe deinen Bericht gelesen«, begann der Bruder. »Ich verstehe, warum du glaubst, dass Raphael nicht fähig ist, ein Kommunikationsprogramm in das System einzuschleusen. Dass er den seltsamen Code nur gefunden und es gemeldet hat und dass seine Interpretation des Codes an sich ein fragwürdiges Verdienst ist und wahrscheinlich eher ein Produkt seiner überbordenden Fantasie. Ich sehe auch, dass du selbst den Code analysiert und herausgefunden hast, dass es nichts weiter war als ein Systemfehler.«
»Das ist richtig, Bruder.«
»Und du bist dir da absolut sicher?«
Lucas blickte etwas verwundert drein. »Bruder, bei allem Respekt, wenn es im System einen derartigen Code gäbe, dann wüsste ich das. Raphael hat da irgendeinen fehlerhaften Code entdeckt, einen Fehler, der vor vielen Jahren passiert ist und der nie aufgefallen ist, weil er nichts gemacht hat, weil da nichts ist. Inzwischen ist er gelöscht worden. Das, was Raphael gefunden hat, und das, was er gesagt hat, dass er gefunden hat, das sind zwei verschiedene Dinge. Mein Bruder war schon immer ein Fantast. Er flüchtet sich in eine Traumwelt. In diesem Fall hat er diese Traumwelt und die Realität verwechselt. Das ist alles. Ich gebe Euch mein Wort, Bruder.«
Er war wie ein Soldat, dachte der Bruder bei sich. Vielleicht war die Technikabteilung doch nicht der richtige Platz für ihn. Vielleicht passte er besser in die Polizeigarde, denen er etwas von seiner Zielstrebigkeit und seinem Pflichtbewusstsein beibringen könnte. Aber nein. Lucas kannte sich besser aus im System als irgendjemand sonst; sein Verständnis von Technik und von Computerprogrammen war ohne Beispiel. Jeder konnte die Polizeigarde anführen, aber nur Lucas konnte das System leiten.
»Ich verstehe.« Er atmete tief aus, ging an seinen Schreibtisch und nahm Lucas’ Bericht in die Hand. »Das Problem ist nur: Das alles wirft weitere allgemeine Fragen auf über die Eignung deines Bruders.« Er sah irgendetwas aufflackern in Lucas’ Gesicht, aber es verschwand zu schnell, als dass er es hätte analysieren oder deuten können. »Ich glaube, dass Raphael gestört ist«, fuhr er fort und senkte den Blick, sodass er ganz vage auf die Höhe von Lucas’ Kinn schaute. »Mehr als gestört. Ich glaube, wir haben alles für ihn getan, was wir können, und ihn so lange in Schach gehalten, wie es zu verantworten ist.«
»Und wo ist Euer Beweis dafür?«, fragte Lucas unvermittelt. Der Bruder zuckte ganz leicht zusammen. War da ein rebellischer Unterton in Lucas’ Stimme oder war das wirklich nur eine Frage zur Klärung? Er schüttelte sich. Er projizierte seine eigenen Ängste auf Lucas und sah Wut, wo keine war. Lucas wusste doch gar nicht, was es hieß, Wut zu empfinden. Lucas war fast so etwas wie ein Sohn für ihn, und dennoch hatte er das Gefühl, dass er ihn weniger kannte als jeden anderen, mit dem er Zeit verbrachte.
»Ich weiß es«, antwortete er traurig und erschöpft, »oder sagen wir eher, das System weiß es. Ich hatte gehofft …« Er sah wieder auf Lucas und spürte, wie er fast zurückprallte angesichts des Fehlens irgendeiner Gefühlsregung im Gesicht des jungen Mannes. »Ein Bericht ist erstellt worden, der besagt, dass Raffy uns verlassen wird.«
»Wird er zum K erklärt?«
»So hat das System es entschieden«, antwortete der Bruder ernst und legte die Hände wie zum Gebet aneinander – eine Angewohnheit, die er nicht abstellen konnte.
»Dann bekommt er heute Nacht eine zweite Neutaufe?«
»Ja, sie holen ihn heute Nacht … zur Sicherheit aller«, sagte der Bruder und suchte in Lucas’ Gesicht nach einem Anzeichen von Trauer oder von Wut – etwas, das er nachempfinden konnte. Aber natürlich war da nichts.