Выбрать главу

Lucas schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche.« Seine Stimme bebte leicht. »Weil Raffy unsere Hilfe braucht. Sonst wird er sterben. Wenn du Raffy helfen willst, musst du mir den Schlüssel von deinem Vater geben.«

Evie starrte ihn an. War das so etwas wie eine Falle oder so etwas wie eine Prüfung? »Neulich«, sagte sie plötzlich, »als du hier warst … da hast du auch schon nach dem Schlüssel gesucht. Darum warst du im Arbeitszimmer meines Vaters!« Ihr Mund blieb offen stehen, obwohl sie nicht weitersprach. Ein Flackern in seinen Augen sagte ihr, dass sie recht hatte.

»Da wusstest du schon, dass er zum K erklärt werden würde«, meinte sie, und Wut stieg in ihr hoch. »Weil du ihn selbst beim Bruder verraten hast. Und jetzt soll ich dir helfen? Du bist ein Lügner, Lucas, und ich helfe dir nicht. Ich weiß nicht, wozu du den Schlüssel brauchst, aber von mir bekommst du ihn nicht.«

»In einem hast du recht«, räumte Lucas ein. »Es ist meine Schuld, dass Raffy zum K erklärt wurde.«

»Weil du ihnen von uns erzählt hast?« Tränen brannten ihr in den Augen, doch es gelang ihr, sie zu unterdrücken. Sie wollte nicht weinen. Sie war zu wütend, um zu weinen. »Weil du ihm folgen musstest? Konntest du es nicht zulassen, dass dein Bruder eine von den kostbaren Regeln der Stadt verletzt?«

Lucas zog eine Braue hoch und schaute dann weg. »Wegen dir?«, fragte er bitter. »Du glaubst, ich hätte …« Er stockte, musste schlucken. Der Muskel über dem Auge pochte noch schneller. »Nein, Evie. Nicht deswegen.«

Evie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Warum dann?«, fragte sie. »Warum ist Raffy ein K? Und warum erzählst du mir, du willst ihm jetzt helfen, wo du ihm doch noch nie helfen wolltest, wo du ihn doch sein Leben lang wie einen Menschen zweiter Klasse behandelt hast und dich selber verhältst wie eine Maschine?«

Sie wusste nicht, wo sie den Mut hernahm, dieses Wort auszusprechen. Lucas’ Blick verfinsterte sich, und sie fragte sich, ob sie zu weit gegangen war. Aber dann nickte Lucas langsam. Er setzte sich auf die Bettkante und schlug die Hände vors Gesicht.

»Es tut mir leid, Evie.« Er blickte zu ihr auf. Sein blondes Haar war zerzaust, und für einen Augenblick sah er nicht nur menschlich aus, sondern auch verletzlich. Evie wollte die Hand ausstrecken, doch sie wusste nicht, wie; sie traute sich selbst nicht. Und überhaupt traute sie ihm nicht. Sie würde ihm nie trauen.

Er atmete tief aus. »Ich war sehr hart mit Raffy. Aber ich wollte ihn beschützen. Er hat nicht erkannt … er hat nicht begriffen … dass das, was er getan hat, seine ganze Art … wie er die Leute angesehen hat … Er hat nicht verstanden, dass ihn das in Schwierigkeiten bringt. Er hat nicht begriffen, dass Dad genauso war. Ich wollte ihn beschützen …« Lucas’ Stimme setzte kurz aus und Evie bewegte sich vorsichtig ein Stückchen näher zu ihm hin. »Dein Vater?«, fragte sie. Raffy sprach so gut wie nie über den Vater. Als man ihn zum K gemacht hatte, war Raffy noch zu jung gewesen, um zu verstehen, was es hieß, böse und gefährlich zu sein. Allerdings hatte er ziemlich schnell erfahren, was das Vermächtnis seines Vaters bedeutete: dass die Leute auf der Hut waren vor ihm, dass sie ihm nicht trauten, und zwar nur weil er so aussah wie sein Vater.

»Unser Vater glaubte an diese Stadt. Er dachte, er könnte von Nutzen sein, wenn er möglichst viel lernte. Aber er hat sich nicht an die Regeln gehalten, nicht an die üblichen Verfahrensweisen. Er hat nicht verstanden, dass die Regeln dazu da sind, um … um …« Wieder ließ er den Satz unvollendet und blickte ins Leere.

»Um was?«, fragte Evie atemlos.

Er blickte ihr in die Augen, dann schüttelte er den Kopf. »Dazu ist keine Zeit. Nicht jetzt. Wir müssen Raffy wegbringen, solange es dunkel ist. Solange alle noch schlafen.«

Evie sah ihn misstrauisch an. Dann setzte sie sich neben Lucas aufs Bett. »Du hast mir nicht erzählt, warum Raffy zum K heruntergestuft worden ist. Und warum es deine Schuld ist, wenn du doch niemandem von mir erzählt hast. Von uns.«

Lucas blickte sich verstohlen um, so als könnte noch jemand im Raum sein, der hörte, was er zu sagen hatte. »Es war die Panne«, sagte er schließlich, und sein Blick verdüsterte sich noch mehr. »Ich habe ihm beigebracht, wie man mit der Technik umgeht und sie beeinflusst. Ich dachte, das könne ihm in Zukunft nützlich sein. Aber er wurde zu gut. Er hat … etwas gefunden. Etwas, das er nicht hätte finden dürfen.«

Evie schnappte nach Luft. Sie erinnerte sich daran, was Raffy ihr über die Panne erzählt hatte – und dass sie ihm nicht geglaubt hatte. »Du meinst … das Kommunikationsprogramm?« Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Lucas blickte sie erschrocken an. »Er hat es dir erzählt? Er hat dir davon erzählt?«

»Ich dachte, er hätte sich das nur ausgedacht. Er hat sich ja immer irgendetwas ausgedacht«, antwortete sie mit brüchiger Stimme.

»Hast du jemandem davon erzählt?« Lucas sah sie eindringlich an und Evie schüttelte den Kopf.

Er schien das zu verdauen. Dann sah er sie wieder an, ganz entschlossen, fast so als blicke er direkt in sie hinein. »Also hilfst du mir? Beschaffst du den Schlüssel?«

Sein ganzes Gesicht schien völlig verändert. Da war nichts mehr von dem Lucas, den sie schon ein Leben lang kannte. Er sah aus wie ein richtiger Mensch. Wie jemand, der sie brauchte. Wie jemand, der sich tatsächlich sorgte um Raffy.

»Du hast es die ganze Zeit gewusst? Und du hast dich die ganze Zeit verstellt?«, fragte sie.

»Ich musste«, flüsterte er und nickte. »Es tut mir leid.«

»Und ich? Was war das? Warum die Verlobung mit mir?«

»Weil ich wusste, dass Raffy dich liebt und dich nie bekommen würde. Ich dachte, so könnte ich wenigstens dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist.«

Sie bekam einen Kloß im Hals und wurde von verwirrenden Gefühlen übermannt.

»Ich helfe dir«, flüsterte sie.

Ein Lächeln huschte über Lucas’ Gesicht. »Also gut.« Er stand auf und auch Evie erhob sich. »Wir brauchen den Schlüssel. Du gehst und holst ihn. Wir treffen uns dann draußen. Wenn deine Eltern aufwachen, dann sag, du würdest schlafwandeln. Sag, du könntest nicht schlafen. Irgendwas, okay? Aber erwähne meinen Namen nicht. Sie dürfen nicht wissen, dass ich da bin. Verstehst du? Davon hängt sehr viel ab, Evie.«

Sie nickte. Sie hatte sich noch nicht an diesen neuen Lucas gewöhnt. Irgendwie erwartete sie immer noch, dass er sich plötzlich mit seinen eiskalten blauen Augen auf sie stürzte und triumphierend die Lippen kräuselte über ihre Dummheit. Doch stattdessen sah er sie voller Dankbarkeit an und kletterte wieder zum Fenster hinaus. Sie war wieder allein, ihr Kopf raste, doch sie konzentrierte sich ganz auf das eine: Sie würde helfen, Raffy zu retten. Koste es, was es wolle.

Sie schlich zur Tür und zog sie einen Spaltbreit auf. Der Flur war verlassen. Vor dem Schlafzimmer der Eltern blieb sie stehen, wie schon so oft, wenn sie sich draußen mit Raffy getroffen hatte. Erst als sie die gleichmäßigen Atemzüge des Vaters hören konnte, ging sie weiter zur Treppe. Die Stufen knarrten; das hatten sie immer getan, aber Evie wusste, welche Stufen unter ihrem Gewicht nicht allzu laut ächzten. Geschmeidig schlich sie nach unten wie auf Trittsteinen. Sekunden später stand sie im Arbeitszimmer ihres Vaters und blickte auf das Porträt ihrer Mutter, hinter dem der Safe mit dem Schlüssel versteckt war. Ihr Vater öffnete ihn nur in den Nächten, wenn die Bösen kamen. Dabei war er immer allein und unbeobachtet, wie das Protokoll es verlangte. Doch Evie hatte schon als kleines Mädchen gelernt, wie man unbemerkt in ein Zimmer schlüpfte und heimlich beobachtete.

Nervös kniete sie sich auf den Schreibtisch und nahm das Bild von der Wand. Mit schweißnassen Fingern drehte sie das Zahlenschloss des Safes, so wie sie es bei ihrem Vater gesehen hatte. 4 – 5 – 24. Ihr Geburtsdatum. Die Tür glitt auf, und sie starrte einen Augenblick darauf, bevor sie hineingriff und den Schlüssel nahm.