Doch dann hielt sie inne. Was tat sie da? Sie spielte Lucas in die Hände. Sein ganzes Leben lang war er kalt, herzlos und grausam gewesen. Und jetzt erzählte er ihr auf einmal, dass er sich verstellt hatte? Und jetzt sollte sie ihm glauben, dass er ihr und Raffy nur helfen wollte? Lucas hatte keine Gefühle. Er war skrupellos. Und er war schlau. Egal was sein Plan war, sie fiel nicht darauf herein.
Sie schob sich rückwärts vom Schreibtisch, verließ das Arbeitszimmer und ging aus dem Haus. Lucas wartete draußen auf sie. »Hast du ihn?«, fragte er und streckte die Hand aus.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich tue es nicht.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Ich traue dir nicht.«
Er packte sie an den Schultern. »Evie, du musst mir vertrauen. Kapierst du denn nicht? Es gibt keinen anderen Weg. Du musst mir den Schlüssel geben, oder Raffy … Raffy …« Die Stimme versagte ihm. Ungläubig sah Evie, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Mit einer jähen Handbewegung wischte er sie weg.
»Aber wie soll ich dir denn vertrauen?«, fragte sie unglücklich. »Wie denn? Nach allem, was du getan hast?«
»Nach allem, was ich getan habe? Wie zum Beispiel, deine kleinen mitternächtlichen Treffen mit Raffy zu decken? Dafür zu sorgen, dass das System euch nicht erwischt? So etwas zum Beispiel?« Lucas’ Augen blitzten wütend.
Evie starrte ihn unsicher an. »Du hast es gewusst?«
»Natürlich habe ich es gewusst.« Er seufzte. »Sonst hätte man euch doch gleich geschnappt!«
Evie brauchte eine Weile, um das zu verdauen. Das System hatte nichts gewusst; es war ihr nicht auf der Spur gewesen. Lucas hatte sie die ganze Zeit beschützt. Sie und Raffy. Oder, dachte sie plötzlich, das System hatte ihn mit dieser Information ausgestattet, damit er ihr Vertrauen gewinnen konnte. Hätte er wirklich tatenlos zugesehen, wenn er von ihren Treffen mit Raffy gewusst hätte?
»Ich verstehe nicht, wie du hättest verhindern können, dass das System davon erfährt.« Zweifel plagten sie. »Man kann das System doch nicht kontrollieren, oder?«
Lucas schloss die Augen. Dann blickte er sie seltsam an, unsicher. »Also gut. Da ist noch etwas.«
»Was?« Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Was denn?«
»Ich will dir etwas erzählen, Evie. Etwas Wichtiges. Damit du mir vertraust, okay?«
»Okay«, antwortete sie unsicher.
Er sah nach oben, dann wieder auf den Boden, so als suchte er nach den richtigen Worten.
»Was denn?«, fragte Evie noch einmal und runzelte die Stirn. »Sag schon.«
Er zog ein Stück Papier hervor und gab es ihr. Evie blickte verständnislos darauf. Es war irgendeine Bescheinigung. Da standen ihr Name und auch die Namen ihrer Eltern. »Deine Eltern …«, flüsterte er kaum vernehmlich. »Deine Eltern sind nicht deine Eltern.«
Sie sah ihn an. »Natürlich sind sie meine Eltern!«
»Nein, Evie.« Er atmete tief aus, trat einen Schritt zurück und blickte sie besorgt an. »Das sind sie nicht. Sie haben dich adoptiert, als du drei Jahre alt warst.«
Sie kniff die Augen zusammen und las den Text noch einmal durch, bis sie, ganz unten in der Ecke, das Wort fand, das sie gesucht hatte. »Adoption.« Ihr wurde übel. Und sie knüllte das Blatt zu einem Ball zusammen.
»Was redest du denn da?«, meinte sie wütend. »Ist das noch eine Lüge? Was redest du denn da, Lucas?« Sie tippte ihm mit dem Finger gegen die Brust, dann versetzte sie ihm einen Stoß, und ehe sie sichs versah, schlug sie auf ihn ein. Sie fauchte ihn an. Aller Anstand war abgefallen, bemerkte sie; Schluss mit der Heuchelei. »Was redest du da, Lucas?«, drang sie auf ihn ein. »Sag es mir …!«
Lucas hockte sich hin und zog sie neben sich. »Das war Teil des Wachstumsprogramms«, flüsterte er, und seine Stimme war angespannt. »Es gab nicht genug Menschen, vor allem keine jungen Leute. Nicht alle konnten nach der Schreckenszeit Kinder bekommen. Nicht alle …« Er holte tief Atem. »Also hat man Menschen hereingelassen. Verzweifelte Menschen. Manche hatten einen weiten Weg zurückgelegt. Sie hatten nichts zu essen, waren am Verhungern. Sie waren nur knapp dem Tod entronnen und hatten gedacht, die Stadt würde sie retten. Sie kamen her und …« Er verstummte; in seinen Augen glänzten Tränen.
»Und was?«, fragte Evie. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. »Was ist mit ihnen passiert? Was ist mit meinen richtigen Eltern passiert?«
»Man hat ihnen ihre Kinder weggenommen und sie zu guten Eltern gegeben. Zu Eltern, die selbst keine Kinder bekommen konnten.«
Evie spürte einen dicken Kloß in der Kehle. »Das meine ich nicht. Was ist mit ihnen passiert? Was ist mit meinen leiblichen Eltern passiert?« Ihre Stimme klang kehlig tief.
Lucas schüttelte den Kopf als Antwort.
Evie sprang auf und wich einen Schritt zurück. Sie konnte nicht sprechen. Sie drehte sich um und ging auf das Haus zu, das Haus, in dem sie aufgewachsen war, das Haus, das sie immer für ihres gehalten hatte. Jetzt war es für sie nichts als eine Lüge.
Sie fühlte sich elend.
Sie wollte schreien, nein, brüllen. Sie wollte Lucas anschreien, er solle sie nicht mehr anlügen, solle ihr nicht solche Dinge erzählen.
Doch sie tat es nicht, weil sie wusste, irgendwo tief drin, dass er nicht log. Der Mann aus ihrem Traum, der sie an sich presste. Die Frau, die ihr über die Stirn strich und ihr von dem wunderbaren Ort erzählte, wo sie hingehen würden, und die ihr sagte, dass sie stark sein musste. Ihre Eltern. Das waren ihre richtigen Eltern gewesen.
Sie drehte sich wieder zu Lucas um. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Ich habe von ihnen geträumt«, hörte sie sich sagen, aber ihre Stimme hatte nichts mit ihr zu tun, denn sie war schon wieder ganz weit weg, ein kleines Mädchen auf dem Arm eines Mannes, der sie liebte. »Der Bruder hat gesagt, ich würde von der Stadt träumen. Er wusste es. Sie …«
Sie fing Lucas’ Blick auf, sah den Schmerz in seinen Augen, wusste, dass er verstand. Als sie sich gegen ihn fallen ließ, spürte sie, wie er die Arme fest um sie schlang, und es war fast so, als wäre sie wieder in ihrem Traum. »Verstehst du?«, flüsterte er verzweifelt. »Hier gibt es so viele Lügen. Wir müssen Raffy befreien. Wir müssen!«
Und Evie nickte, weil sie wusste, dass er recht hatte. Und sie wusste noch etwas. »Ich gehe auch«, sagte sie, und während sie es sagte, stieg Angst in ihr auf, denn außerhalb der Stadtmauer lauerten nur Gefahr, die Bösen, eine Welt voller brutaler Menschen. Aber sie wollte es wagen.
»Nein«, sagte Lucas sofort. »Nein, du bleibst hier. Hier bist du in Sicherheit. Ich habe alles geplant. Es wird so aussehen, als hätte Raffy den Schlüssel gestohlen. Du musst hierbleiben.«
»Nein.« Evie schüttelte heftig den Kopf. »Ich gehe mit Raffy. Ich gehöre nicht hierher. Ich will hier nicht mehr leben. Ich will nichts mehr zu tun haben mit diesem Ort.«
Lucas schwieg einige Sekunden lang. Er wich zurück, fasste sie wieder an den Schultern, aber sanfter diesmal. »Es ist gefährlich da draußen«, sagte er dann. »Bist du dir sicher?«
Sie nickte. »Ich kann hier nicht bleiben. Jetzt nicht mehr. Und sie werden sowieso wissen, dass ich es war. Raffy müsste ein Fenster oder so einschlagen … Und wenn wir das tun, dann wacht mein Vater auf, schlägt Alarm, und niemand kann entkommen.«
Lucas sah ihr in die Augen. Er sah elend aus. »Ich hätte nicht herkommen sollen.«
»Du musstest kommen«, erwiderte sie. »Und außerdem, wenn das stimmt, was du mir über meine Eltern erzählt hast, dann kann ich sowieso nicht bleiben. Nicht mehr. Sie haben sie mir weggenommen, sie haben mich angelogen. Mein ganzes Leben hier war eine einzige Lüge.«
»Sie haben jeden angelogen«, sagte Lucas leise.
»Dann gehen wir alle zusammen.« Evie schluckte und versuchte, so zu tun, als wäre der riesige Kloß in ihrer Kehle nicht da. Sie wollte so kalt sein, wie Lucas immer war, wollte eine Maschine sein, damit es nicht so wehtat. Und plötzlich verstand sie, warum er so war, wie er war. Weil Maschinen keinen Schmerz spürten. Denn wenn man aus Eis war, dann konnte man nicht verletzt werden.