Einen Augenblick lang leuchtete etwas auf in Lucas’ Blick, etwas, das sie wieder an Raffy erinnerte, aber das sie auch irgendwie verstörte, denn in ihrem eigenen Blick lag bestimmt dieselbe Verzweiflung. Sie hatte Lucas gehasst, sie hatte ihn verachtet. Aber jetzt … jetzt …
»Ich kann nicht mitkommen«, erklärte er unvermittelt, wandte sich ab und kappte die Verbindung, die ein paar seltsame Sekunden lang zwischen ihnen bestanden hatte. Evie hatte das Gefühl, als stolpere sie rückwärts, irgendwohin in etwas, was sie nicht kannte. »Ich muss hierbleiben. Es gibt Dinge, die ich tun muss. Ich …«
Sein Blick schoss umher. Evie wusste, dass es sein Kopf war, der gesprochen hatte, nicht sein Herz. Und mit einem Mal verstand sie ihn – nicht alles, aber genug. Er hatte überlebt, er hatte getan, was er tun musste. Aber er war ein Mensch, er hatte gelitten und er litt noch immer. »Es gibt Dinge, die ich erledigen muss. Dinge …« Er murmelte vor sich hin, dann schaute er sie wieder an, und diesmal spürte Evie die volle Kraft seines Blicks, die verzweifelte Not in seinen Augen, den Hunger nach Trost und nach Verständnis. Ohne es eigentlich zu wollen, ohne groß darüber nachzudenken, ging sie auf ihn zu und berührte mit den Händen seine Brust, seine Schultern, seinen Hals. Er legte die Arme wieder um sie und ihre Lippen fanden sich. Sie spürte, wie ihre Tränen sich mit den seinen mischten, sein Schmerz mit ihrem Schmerz, bis es sich fast so anfühlte, als wären sie zu einem einzigen Wesen geworden, mit derselben Wut, derselben Verzweiflung und derselben Angst. Und dann war es ganz plötzlich vorbei, genauso schnell, wie es begonnen hatte. Sie lösten sich voneinander, hielten sich noch ein paar Sekunden an den Händen, bevor sie sie sinken ließen. Und Evie wusste, dass es derselbe Gedanke war, der sie dazu gebracht hatte, aufzuhören. Der Gedanke an denselben Menschen. Raffy.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Evie und ging zur Haustür. »Ich bringe dir den Schlüssel. Aber ich verlasse die Stadt, Lucas. Ich kann hier nicht bleiben. Jetzt nicht mehr.«
»Ich weiß«, antwortete Lucas und sah weg. Sein blondes Haar schimmerte im Mondlicht. Seine verhangenen Augen betrachteten jetzt irgendeinen Punkt auf dem Straßenpflaster. »Es tut mir so leid, Evie. Wegen allem.«
10
Evie zog die Tür zu und warf einen letzten Blick auf das Haus, in dem sie eigentlich bis zu ihrer Hochzeit hatte wohnen wollen. Lucas drückte ihre Hand.
»Bist du so weit?« Sie nickte. »Okay, dann gehen wir jetzt und holen Raffy.«
Er ließ ihre Hand nicht los, oder vielleicht war sie es, die ihn festhielt – sie war sich nicht sicher. Sie wusste nur, dass sie das nicht allein tun konnte, dass sie Lucas’ Haut spüren musste, seine Wärme, als Bestätigung, dass sie nicht allein war. Sie hatte immer gedacht, in der Stadt sei man niemals allein; die ganze Gesellschaft hier gründete auf Gemeinschaft, Bürgersinn und Zusammengehörigkeit. Doch jetzt wusste sie, dass sie nie wirklich dazugehört hatte und dass ihr Leben eine Lüge gewesen war. Sie war auf sich allein gestellt, so war es immer gewesen.
Es dauerte nur ein paar Minuten bis zu dem Haus, in dem Lucas mit seiner Mutter und seinem Bruder wohnte. Sie gingen schon auf die Tür zu, als Evie ihn zurückhielt und zu ihm hochsah. Es gab so vieles, was sie wissen wollte, so vieles, was sie nicht begreifen konnte über ein vages Gefühl von Vertrauen und Achtung hinaus.
»Die ganze Zeit?«, fragte sie. »Du hast dich wirklich verstellt? Die ganze Zeit?«
Lucas fing ihren Blick auf, dann sah er weg. »Überleben«, sagte er leise. »Wir müssen alle unseren eigenen Weg finden, um zu überleben.«
»Und …« Sie zog die Stirn in Falten und versuchte, in Gedanken das Puzzle zusammenzusetzen, aber es waren zu viele Teile, zu viele Fragen. »Das Kommunikationsprogramm … Heißt das … Kennst du dich damit aus? Hast du …?«
Lucas nickte. »Mein Vater hat es dort installiert«, flüsterte er.
Sie starrte ihn ungläubig an. »Dein Vater?«
Lucas nickte wieder. »Evie, da draußen vor den Mauern ist eine ganze Welt. Keine hübsche Welt, keine Welt voller Schätze und Güter, aber nichtsdestotrotz eine Welt. Da sind auch Menschen, die euch helfen können. Mein Vater hat Kontakt aufgenommen mit …«
»Einer anderen Stadt?«
Lucas nickte. »Ihr müsst sie finden. Dort seid ihr sicher.«
Evie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Lucas schüttelte den Kopf. »Keine Fragen mehr. Wir haben keine Zeit«, flüsterte er. »Sobald wir einmal im Haus sind, gibt es eine Menge zu tun. Raffy wird mir nicht zuhören; er wird zu lange brauchen, bis er alles versteht. Aber du musst mir jetzt zuhören. Du musst die Führung übernehmen. Geht durch das Osttor und dann Richtung Norden. Schaffst du das?«
Evie nickte.
»Geht so lange, bis es hell wird, und dann sucht euch ein Versteck. Im Norden gibt es Höhlen, bis zu denen ihr es schaffen solltet. Falls nicht, sucht euch überall Deckung, wo ihr könnt. Diese Welt ist in der Schreckenszeit fast ganz zerstört worden. Ihr müsst also Wasser und etwas zu essen mitnehmen. Und ihr müsst sehr vorsichtig sein, Evie. Gib auf Raffy acht. Er kann sehr unbedacht sein und er wird zu leicht wütend.«
Ihre Blicke trafen sich, und etwas flackerte kurz auf zwischen ihnen, aber Lucas sah wieder weg, bevor Evie es deuten konnte.
»Geht über Nebenwege nach Osten bis zum Stadtrand.«
»Durch die Sümpfe?« Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Jeder wusste Bescheid über die Sümpfe, die sich um die Stadt zogen und die Grenze zwischen dem Guten und dem Bösen bildeten. Evie hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, vor vielen Jahren. Ihr Vater hatte sie mitgenommen. Er hatte ihr erzählt, die Sümpfe seien Teil eines ausgeklügelten Bewässerungssystems, das das Wasser in die Flüsse der Stadt leitete. Zugleich verstärkten sie den Verteidigungsring der Stadt. Monster gäbe es keine in den Sümpfen, hatte der Vater gesagt – entgegen den Geschichten, die den Kindern in der Schule erzählt wurden – und man brauche sie nicht zu fürchten, denn sie beschützten und ernährten die Bürger in der Stadt. Evie hatte aufmerksam zugehört und genickt, aber als sie wieder gingen, war sie doch sehr erleichtert gewesen, als sie durch die kleinen Felder und Gemüsegärten am Übergang zum Sumpfland wieder zu den Straßen und Häusern zurückgekehrt waren, dem sicheren, bewohnten Teil der Stadt, den sie kannte. Den Teil der Stadt, den sie, wie sie damals dachte, nie wieder verlassen wollte.
»Es gibt einen Weg durch den Sumpf«, sagte Lucas und nickte. »Geht genau nach Osten und haltet Ausschau nach einem Häuschen. Es sieht verfallen aus, aber das ist es nicht. In dem Häuschen ist ein Wächter mit Hunden.«
»Mit Hunden?« Evie schluckte.
»Es wird gut gehen. Ihr werdet Regensachen anziehen. Das überdeckt euren Geruch ein bisschen. Gleich hinter dem Haus findet ihr den Weg. Der führt euch zum Osttor. Geht durch das Tor, rennt los, nach Norden, und schaut nicht zurück.«
»Und du?«, fragte Evie. »Was ist mit dir?«
Er zuckte die Achseln und brachte ein leichtes Lächeln zustande. »Kein Problem. Mach dir um mich keine Sorgen. Also, sind wir so weit?«
Evie schaute ihn noch ein letztes Mal an – diese Augen, die immer so kalt gewesen waren und die jetzt strahlten wie die Sonne – und nickte. »Ich bin so weit.« Leise öffnete Lucas die Haustür.
Im Haus war es stockdunkel. Evie ließ sich von Lucas die Treppe hinauf bis zu Raffys Zimmer führen. Lucas schaltete eine kleine Lampe an. Raffy war an sein Bett gefesselt. Er hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Ab und zu zerrte er im Schlaf an den Stricken und abermals stieg Furcht auf in Evie. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Lucas und fürchtete schon fast, er würde sie mit kaltem, höhnischem Blick verlachen, weil sie ihm geglaubt hatte, weil sie auf seinen Trick hereingefallen war. Aber in seinen Augen war nichts als Schmerz und Zärtlichkeit, als er sich über seinen Bruder beugte und ihn losband. »Es tut mir leid, Raffy«, flüsterte er. »Aber es ging nicht anders.«