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Plötzlich öffnete Raffy ein Auge, dann das andere. Mit glasigem Blick begutachtete er die Lage. Als er bemerkte, dass seine Hände frei waren, und er seinen Bruder sah, der über ihm aufragte, warf er sich gegen ihn. Er stieß ihn zu Boden, sprang auf und stürzte auf Evie zu. »Schnell«, rief er hastig. »Wir müssen hier raus. Wir müssen weg von ihm.«

Evie schüttelte den Kopf. »Raffy! Wir verlassen die Stadt und Lucas hilft uns dabei.«

Raffy blickte sie überrascht und schockiert an. »Lucas? Die Maschine? Du darfst ihm nicht trauen, Evie. Er hat mich festgebunden und mich hier gefangen gehalten.« Er packte Evie und wollte losrennen, doch er fiel hin und riss Evie mit zu Boden. Lucas warf sich auf ihn.

»Still!«, zischte er. »Wenn Mutter aufwacht …« Er sah besorgt zur Tür und gab Evie ein Zeichen, sie solle sich verstecken. »Nur für den Fall«, flüsterte er. Evie huschte hinter die dicken Vorhänge am Fenster, aber außer dem Gepolter, das Raffy machte bei dem Versuch, sich aus Lucas’ Griff zu winden, war nichts zu hören. Nach wenigen Augenblicken kam Evie wieder hervor.

»Raffy«, flehte Lucas, aber es hatte keinen Zweck. Sein Bruder tobte weiter und weigerte sich, zuzuhören. Evie hockte sich bei Raffy nieder.

»Raffy«, sagte sie und nahm seine Hand. »Vertraust du mir?«

Raffys Blick wanderte von ihr zu Lucas und wieder zurück. Dann nickte er.

»Morgen werden sie dich zu einem K machen«, flüsterte sie. Raffys Augen weiteten sich vor Angst, und er wand sich noch heftiger, aber Evie drückte seine Hand fester und er hielt inne. »Wir verlassen die Stadt. Du und ich, zusammen. Lucas hilft uns dabei. Ich habe den Schlüssel von meinem Vater. Lucas ist nicht so, wie du denkst, Raffy. Er ist keine Maschine. Er hat dich beschützt.«

Raffy sah sie voller Abscheu an. »Mich beschützt? Er ist schuld, dass sie mich zu einem K machen. Er hat mich festgebunden. Er hat gesagt, ich bin eine Gefahr für mich selbst.«

»Das warst du auch«, meinte Lucas leise, aber bestimmt. »Du hast über Dinge geredet, die dir nur schaden konnten. Ich musste so tun, als wenn du verrückt wärst und wirres Zeug reden würdest. Sonst …«

»Sonst was?«, fragte Raffy wütend. »Sonst hättest du einen schlechten Eindruck gemacht? Nach deiner grandiosen Karriere?«

»Raffy, nicht …«, sagte Evie, die seine Wut verstehen, doch die Lucas’ gequälten Ausdruck nicht ertragen konnte, auch wenn der noch so sehr versuchte, ihn zu verbergen. »Du musst mir einfach glauben.«

»Ihr müsst jetzt gehen«, sagte Lucas. »Bindet mich fest, damit es so aussieht, als hättet ihr mich überwältigt.« Er ließ Raffy los und zog zwei wasserdichte Overalls und Gummistiefel unter dem Bett hervor. »Das braucht ihr für die Sümpfe«, sagte er sachlich und stopfte alles in einen Rucksack, der am Fußende des Bettes bereitstand. »Da sind auch Verpflegung und Wasser drin – genug für ein paar Tage.«

Evie starrte auf die Sachen, dann auf Lucas. »Du hast gewusst, dass ich gehen würde?«, fragte sie leise. »Du hattest das alles geplant?«

Lucas sah sie eindringlich an. »Ich dachte, ich würde selbst gehen«, meinte er.

»Und dann?«, fragte Evie und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen.

Lucas wandte den Blick ab. »Aber so ist es besser. Wenn ich hier bin, kann ich euch besser beschützen, bis ihr in Sicherheit seid.«

»Sicher aus der Stadt draußen, meinst du?«, fragte Evie.

»Sicher aus dem Weg für Lucas und dann ziemlich schnell verhungert. Stimmt’s, Lucas?«, sagte Raffy sarkastisch.

»Und dann müsst ihr selbst etwas zu essen und Wasser finden«, fuhr Lucas unbeirrt fort, ohne auf ihre Fragen einzugehen. »Wenn ihr euch noch mehr aufpackt als das hier, wird es zu beschwerlich. Wasser könnt ihr an den Zuflüssen zum Stadtfluss finden. Er ist westlich der Stadt aufgestaut, fließt aber von Osten zur Stadt.«

Er war fertig mit Packen und gab Raffy den Rucksack. »Kannst du das tragen?«

Raffy riss ihm den Rucksack aus der Hand. »Wir sollen also wirklich weglaufen? Und du lässt das einfach zu?« Er verdrehte die Augen. »Keine Chance. Ich weiß, was passiert. Du wirst uns die Polizeigarde auf den Hals hetzen, genau wie du es bei Vater gemacht hast.«

»Raffy!« Evie warf ihm einen warnenden Blick zu. »Sag so was nicht. Das stimmt nicht. Lucas hilft uns.«

»Es stimmt sehr wohl«, erwiderte Raffy wütend. »Ich habe es doch selbst gehört. Ich habe gehört, wie er mit ihnen gesprochen hat. Er hilft uns nicht. Er weiß gar nicht, was helfen überhaupt ist.«

Evie schaute unsicher zu Lucas. Der wich ihrem Blick aus.

»Sag, dass du nicht die Polizeigarde auf deinen Vater gehetzt hast.« Ihre Stimme stockte. »Das hast du nicht getan. Das kannst du nicht getan haben.«

»Ich habe getan, was ich tun musste«, antwortete er.

»Nein!« Evie atmete keuchend. »Das ist unmöglich!« Sie blinzelte eine Träne weg und starrte Lucas an, damit er sagte, dass das nicht stimmte. Sie hatte geglaubt, dass er doch ein guter Mensch war, dass er ihr Freund war, dass er die Stadt hasste wegen seinem Vater. Er hatte sie glauben gemacht, dass er litt und dass er verstand. Aber Lucas sagte nichts.

»Nicht unmöglich«, sagte Raffy, und seine Augen verengten sich. »Alles ist möglich, richtig, Lucas?«

Lucas schwieg. Mit schuldbewusster Miene zog er Raffys Stricke zu sich hin und band sie zuerst um seine Fußgelenke, dann um seine Handgelenke. Evie sah im Mondlicht die goldene Uhr aufblitzen und erschauerte.

»Du …« Bestürzt starrte sie Lucas an und schüttelte ungläubig den Kopf, als Raffy die Enden der Seile fest verknotete. Lucas zuckte zusammen, doch er sagte nichts. »Hast du deinen Vater wirklich an die Polizeigarde verraten?«

»Natürlich hat er das. Das ist doch typisch Lucas. Dich hat er vielleicht hereingelegt, aber mich nicht.« Raffy hob den Rucksack auf und warf seinem Bruder einen verächtlichen Blick zu. »Komm, Evie. Mal sehen, wie weit wir kommen, bis er sie hinter uns herhetzt. Ich bin gespannt, wie lange er diesmal braucht, um seine Familie zu verraten.«

Evie nickte zögernd; sie verstand es nicht und wollte es auch nicht verstehen. Lucas sah weg. Sie sagte seinen Namen, aber er blickte gerade so lange zu ihr hin, um ihnen zu bedeuten, dass sie gehen sollten.

»Leb wohl«, formte sie stumm mit den Lippen und folgte Raffy aus dem Zimmer. Lucas hatte er nicht gesehen; er starrte an die Wand vor ihm, und Evie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, dass die Wärme wieder aus seinen Augen wich und dass sie ganz langsam wieder zu kaltem Stahl wurden.

Sie gingen durch die Hintertür und schlichen durch den Garten weiter zu dem Weg, der dahinter lag. Sie redeten nicht. An jeder Ecke blieben sie stehen und spähten auf den Weg oder auf die Straße vor ihnen, bevor sie mit gesenktem Kopf weitergingen. Der Rucksack sah riesig aus, und Evie fragte mehrmals, ob er nicht zu schwer sei und ob sie ihm helfen sollte. Doch Raffy knurrte nur als Antwort. Allmählich ließen sie die Stadt hinter sich, und statt durch dicht besiedelte Straßen liefen sie nun an Maisfeldern und Weizenfeldern vorbei, an den Weiden für die wenigen Rinderherden, die im Freien grasen durften. Mit jedem Schritt spürte Evie, wie ihr kälter wurde – so als würde sie sich von einem behaglichen Feuer entfernen. Aber das Feuer war nicht dazu da, um sie zu wärmen, sagte sie sich immer wieder; das Feuer würde Raffy verzehren, wenn sie blieben. Und sie auch. Also hielt sie den Kopf gesenkt und hastete hinter Raffy her. Sie verdrängte die Ängste und die Sorgen und sagte sich immer wieder, sie habe keine Wahl und das vom Bösen bewohnte Land war für sie immer noch sicherer als die Welt innerhalb der Mauern der Stadt.

Dann blieb Raffy stehen und sie blickten sich erstaunt um. Sie waren im Sumpfland, wo der Boden so vollgesogen war mit Wasser, dass es sich anfühlte, als würden ihre Schuhe einsinken, das Land, das ihr Vater ihr gezeigt und vor dem er sie gewarnt hatte, jemals einen Fuß hineinzusetzen, weil es sie sonst verschlingen würde, genau wie der Sumpf alle Bösen verschlang, die versuchten, in die Stadt einzudringen.