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»Ich bin ganz sicher«, flüsterte sie.

Raffy lächelte und um seine Augen bildeten sich Fältchen. Er nahm sie bei der Hand und sie schritten zusammen durch das Tor. Dann schlossen sie es hinter sich wieder.

»Und jetzt?«, fragte Raffy, lehnte sich an das Tor und betrachtete prüfend die Landschaft vor ihnen.

»Jetzt laufen wir«, sagte Evie. »Jetzt laufen wir und bleiben nicht stehen.«

11

Raffy rührte sich und schlug die Augen auf. Dann streckte er sich und stand auf. »Hast du geschlafen?«

Evie zuckte halbherzig die Schultern. Sie hatte kein bisschen geschlafen, aber das wollte sie nicht sagen. Dazu war es zu hell gewesen – selbst in der Höhle, die sie gefunden hatten. Außerdem waren da seltsam pfeifende Geräusche um sie herum, die ihr Angst eingejagt hatten. Gern hätte sie sich näher an Raffy gekuschelt, um Trost und Schutz zu finden, aber Raffy spendete keinen Trost – da waren nur Wut und Hohn.

»Also, was jetzt?«, fragte er und blickte überheblich auf sie herab. »Sollen wir noch ein bisschen rennen? Oder hier bleiben und warten, bis wilde Tiere uns zerfleischen? Was hat Lucas gesagt? Oder ging sein Plan nicht so weit?«

Evie schloss die Augen und blinzelte die Tränen weg, die ihr in den Augen brannten. Sie hatte gehofft, dass der Schlaf helfen und dass Raffy ruhiger würde. Aber er schien sogar noch wütender zu sein. Sie hatte es satt, sich zu streiten. Sie stritten, seit sie die Stadt verlassen hatten – darüber, ob sie nach Norden gehen sollten oder nicht; darüber, ob Lucas ihnen nur zur Flucht verholfen hatte, um sie loszuwerden; darüber, wie viel Wasser sie trinken sollten. Dann war langsam die Sonne aufgegangen, und sie hatten sich darüber gestritten, ob sie weiterlaufen oder sich ein Versteck suchen sollten. Schließlich hatte Evie sich durchgesetzt, und sie hatten nach einem geschützten Platz Ausschau gehalten, wo sie sich ausruhen konnten, bis die Nacht anbrach. Schweigend hatten sie die Höhle ausgewählt. Schweigend hatten sie gegessen und getrunken. Raffy hatte sie kaum angesehen und schließlich verkündet, dass sie nun schlafen sollten, und sich mit dem Rücken zu ihr zusammengerollt.

Das Land, durch das sie gegangen waren, war seltsam gewesen und erschreckend wie ein Fiebertraum. Häuser, die ganz von Bäumen überwuchert waren, zerbröckelte Straßen, riesige graue, leblose Landstriche, die sich endlos weit zu erstrecken schienen, und wieder verfallene Gebäude. Hatten hier einmal Menschen gelebt? Hatten sie Kinder aufgezogen, waren sie zur Arbeit gegangen und hatten gelebt, ohne zu ahnen, dass ihnen die Vernichtung bevorstand? Waren sie geflohen, bevor die Schreckenszeit begann, oder waren sie von den Bomben überrascht worden? Diese Fragen hatte Evie den Lehrern in der Schule gestellt, diese Fragen hatten ihr keine Ruhe gelassen. Doch sie hatte nie eine Antwort bekommen; die Lehrer waren nicht in der Lage oder nicht gewillt, zu antworten. Die Menschen hätten die Schreckenszeit selbst über sich gebracht, sagten sie. Die Menschen seien durch ihre Amygdala zum Schlechten verleitet worden; sie seien der Gewalt, der Selbstsucht und dem Hochmut verfallen. Das Böse sei für sie eine Lebensart gewesen.

»Er hat nur gesagt, wir sollen nach Norden gehen«, sagte Evie leise. Sie öffnete die Augen und sah, dass er auf sie herabstarrte. Sein Blick war etwas sanfter geworden.

»Hast du Hunger?«

Sie nickte.

»Ich auch. Essen wir was. Aber dann sollten wir los.«

Sie war versucht, ihm zu widersprechen und ihn zu ermahnen, das bisschen Essen, das sie hatten, einzuteilen, aber sie ließ es bleiben. Sie war es müde, zu streiten. Die neue Welt war ohnehin schon rau und leer genug; mehr Einsamkeit, als sie schon jetzt empfand, konnte sie sich nicht vorstellen.

Raffy schnürte den Rucksack auf und warf ihr etwas Brot und Käse hin, und sie begann lustlos zu essen, aber bald meldete sich der Hunger mit Macht und sie schlang alles gierig hinunter. Doch sie behielt Raffy im Auge, während sie aß. Ihr ganzes Leben lang hatten sie sich danach gesehnt, zusammen zu sein, und jetzt waren sie zusammen und konnten kaum miteinander reden. Würde das in dieser Welt jenseits der Stadt immer so sein?

»Sollen wir zu der anderen Stadt gehen?«, fragte sie schließlich. »Der Ort, der mit dem System kommuniziert hat?«

Raffy aß zu Ende, zog eine Flasche Wasser aus dem Rucksack und trank einen Schluck. Dann stand er auf. »Also glaubst du mir jetzt?« Wieder war seine Stimme voller Hohn. »Das solltest du lieber nicht. Lucas hat doch klargestellt, dass ich mich geirrt habe. Es war eine Panne, das ist alles.«

Evie schüttelte den Kopf. »Er meint, er hätte das nur gesagt, um dich zu schützen. Damit du es nicht weitererzählst. Er hat gesagt, es sei ein Kommunikationsprogramm. Er hat gesagt, es sei seine Schuld, dass du es gefunden hast.« Sie fing seinen Blick auf und verstummte; er hatte die Wärme in ihrer Stimme gehört und seine Miene war feindselig. »Das hat er mir jedenfalls erzählt«, sagte sie brüsk, »als er mich gebeten hat, dir bei der Flucht zu helfen.«

»Dann muss es ja stimmen«, sagte er und sah weg. Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Schau«, sagte er und packte den Rucksack. »Wir können uns über diesen anderen Ort nicht den Kopf zerbrechen. Jedenfalls nicht jetzt. Wir müssen so weit von der Stadt wegkommen, wie es geht. Sie werden nach uns suchen. Und wir müssen die Bösen meiden. Und etwas zu essen finden, Wasser und einen Unterschlupf. Ich denke, damit haben wir genug zu tun, meinst du nicht auch?«

Er blickte sie kaum an, als wäre sie das Letzte, was er sehen wollte.

»Aber …« Evie verzog unwillkürlich das Gesicht. Sie wusste, dass er recht hatte. Doch sie wollte es nicht hören. Sie wollte ein Ziel haben, nicht einfach weglaufen. Sie wollte Antworten; sie wollte Wut ablassen gegen die Stadt und sie wollte den anderen Ort finden. Den Ort, von dem sie gekommen war.

»Aber was?« Raffy seufzte ungeduldig.

»Aber wir suchen doch nach dieser anderen Stadt, wenn wir in Sicherheit sind, oder? Lucas hat gesagt, wir sollten uns nordwärts halten, bestimmt weil …«

»Lucas sagt einen Haufen Zeug«, unterbrach Raffy sie verärgert. »Aber Lucas ist nicht hier. Ich gehe da lang. Kommst du mit?«

Er marschierte auf den Höhlenausgang zu, und für ein paar Augenblicke sah Evie ihm nach, wie er ging. Sie war allein. Sie war allein mitten in einem trostlosen Niemandsland. Sie war müde, sie war hungrig, und Raffy war wütend auf sie, weil sie ihm das Leben gerettet hatte.

»Weißt du, dass K für Killable steht?«, rief sie plötzlich. »Weißt du, dass sie dich von den Bösen töten lassen wollten? Wenn ich dir nicht zur Flucht verholfen hätte. Wenn Lucas dir nicht geholfen hätte.«

Raffy blieb stehen und drehte sich um. »Killable?«

»Genau. Killable.« Sie rannte zu ihm. »Ks werden nicht neu konditioniert«, sagte sie atemlos. »Man setzt sie vor der Stadtmauer aus, damit die Bösen sie töten. Die Bösen fressen sie auf. Wie Wilde.«

»Und das hat dir mein Bruder erzählt?«, fragte Raffy, immer noch mit Trotz in der Stimme, doch jetzt spiegelte sich so etwas wie Furcht in seinem Gesicht.

»Er hat gesagt, er hätte dich eingesperrt, damit niemand mit dir sprechen konnte. Er hat versucht, sie davon zu überzeugen, dass du an Wahnvorstellungen leiden würdest und dir das mit dem Kommunikationsprogramm nur eingebildet hättest. Er hat gesagt, er wollte dich beschützen.«

»So wie er meinen Vater beschützt hat?«, fragte Raffy. »Evie, er hat die Polizeigarde gerufen. Er hat sie auf unseren eigenen Vater gehetzt. Unser Vater war ein K. Du meinst also, er ist vor der Stadt ausgesetzt worden? Und Lucas wusste es?« Er biss sich auf die Lippe, wandte sich ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase.

Evie sah zu Boden. Hatte Lucas so etwas wirklich getan? Und hatte Raffy doch recht mit Lucas? Nein. Sie konnte das nicht glauben. »Vielleicht hat er es ja getan, Raffy. Ich weiß es nicht. Aber er hat uns zur Flucht verholfen. Er hat verhindert, dass die Bösen dich töten. Und er … er hat …«