»Er hat was?«, fragte Raffy höhnisch.
»Er hat mir gesagt, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind.« Sie fing an zu schluchzen. »Er hat gesagt, ich wäre in die Stadt gebracht worden. Und dass sie meine richtigen Eltern umgebracht hätten.«
»Was?« Raffy erstarrte.
»Er hat gesagt, sie hätten Leute hereingelassen, die Kinder hatten, und ihnen die Kinder dann weggenommen und … und …«
Raffy schüttelte den Kopf, seine Augen flackerten, als würde er Informationen verarbeiten. Dann fasste er Evie an den Schultern. »Dein Traum! Dein Traum!«
Evie nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Tränen der Trauer, der Erschöpfung, der Angst und des Verrats. »Sie haben mir immer gesagt, ich muss gegen meine Träume ankämpfen. Und dann haben sie gesagt, ich würde von der Stadt träumen! Der Bruder wusste es – er wusste es die ganze Zeit. Und Lucas hat es mir erzählt. Warum hätte er mir die Wahrheit sagen sollen, wenn er mir nicht irgendwie helfen wollte? Vielleicht sind meine Eltern ja aus dieser anderen Stadt gekommen. Verstehst du denn nicht, dass wir dort hinmüssen?«
Raffy starrte sie einen Moment lang an, dann zog er sie an sich und nahm sie in die Arme.
Als er sie losließ, blickte sie zu ihm auf und sah, dass in seinen Augen ein Feuer loderte; die Hoffnungslosigkeit, die sich dort eingenistet hatte, war endlich vertrieben. »Wir werden diesen anderen Ort finden«, sagte er feierlich. »Wir werden ihn finden. Das verspreche ich dir. Es tut mir leid, Evie. Es tut mir so leid.«
Evie lächelte unter Tränen. »Mir tut es auch leid«, brachte sie heraus. »Mir tut es auch leid.«
Er küsste sie zärtlich. »Wir haben uns, und das ist alles, was zählt. Richtig?«
Evie sah ihn an, den Jungen, den sie schon so lange liebte, ihren besten Freund, ihren Vertrauten, und sie nickte. Doch während Raffy sie noch einmal an sich zog, gingen ihr Bilder von Lucas durch den Kopf, Bilder von dem Schmerz in seinen Augen und von der Verzweiflung in seinem Gesicht, und sie drängte diese Gedanken weg und vergrub ihr schlechtes Gewissen tief in ihrem Herzen.
»Na, dann los«, meinte Raffy und lächelte sie an. »Es wird schon dunkel. Höchste Zeit, dass wir loskommen.«
Sie traten aus der Höhle wieder hinaus in die schaurige, vergessene Landschaft. Sie liefen los, dann gingen sie ein Stück, um wieder zu Atem zu kommen, dann rannten sie wieder über rissige, staubtrockene Erde, durch Lagerhallen ohne Dach und über gestampfte Pfade, die einmal Straßen und Gehsteige gewesen sein mussten.
»Warte«, rief Evie. Sie blieb stehen, bückte sich und zog etwas aus der Erde.
»Was ist das?«, fragte Raffy.
»Ein Spielzeug.« Sie drehte es in den Händen. Eine perfekt nachgebildete Babypuppe, ein Mädchen, aus Plastik, ein Stoff, den es innerhalb der Stadtmauer nur ganz selten gab. Nur Dinge von früher waren aus Plastik, und sie wurden verachtet, weil es die Dinge der Bösen waren. In der Stadt wurde kein Plastik hergestellt; nur neue, in der Stadt hergestellte Gegenstände waren gut, weil das die Industrie und Produktivität förderte und alles, was die Stadt so wunderbar machte. Während sie die Puppe betrachtete, konnte Evie förmlich den Hohn des Bruders hören, und ihre Mutter, wie sie sich darüber lustig machte, über das Spielzeug des Bösen, und zu ihr sagte, es werde sie verderben. Spielzeug war nicht erlaubt in der Stadt; was sie an Spielzeug gesehen hatte, stammte aus der Alten Welt, wo es so etwas ab und zu gab. Man spielte gelegentlich darauf und spielte damit, bis es einem von einem Lehrer oder von den besorgten Eltern weggenommen wurde. Aber sie war nicht mehr in der Stadt.
»Ich behalte es«, sagte Evie.
»Im Ernst?« Raffy verzog ungläubig das Gesicht. »Es ist schmutzig. Und es ist ein Kinderspielzeug.«
»Ich war auch einmal ein Kind … früher«, sagte Evie leise. »Es sollte hier nicht so verlassen liegen bleiben.«
»Also wenn du es wirklich behalten willst, dann stecke ich es in den Rucksack«, sagte Raffy, dann hielt er inne, weil sie etwas gehört hatten. Ein Rascheln.
Erschrocken sahen sie sich an. Weit und breit war niemand zu sehen, aber sie konnten dennoch in Gefahr sein.
»Gehen wir«, flüsterte Raffy, und sie gingen weiter, so leise sie konnten. Evie wagte kaum zu atmen und zwang sich, so leicht wie möglich aufzutreten.
Sie liefen weiter und bald kam vor ihnen ein Waldstück in Sicht. Raffy zog sie an der Hand dorthin und keuchte: »Komm, hier hinein.« Sie rannten zwischen den Bäumen hindurch, und Evie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, so groß und majestätisch waren diese Bäume, viel größer, als sie sich je hätte vorstellen können, fast so als könnten sie bis zum Mond hinaufreichen mit ihren Ästen. Gewaltige Stämme wuchsen aus dem dicht mit Gebüsch bestandenen Boden. Dornen verhakten sich an ihren Knöcheln und bohrten sich ins Fleisch, aber sie nahm den Schmerz kaum wahr. So groß war ihr Erstaunen über diesen verwilderten, geheimnisvollen Ort, der von einer Macht kündete, wie die Stadt sie nie erlangen würde. Sie liefen tiefer hinein, bis sie nicht mehr weiterkonnten und nur noch das sanfte Gesäusel des Windes in den Blättern hörten.
»Okay«, sagte Raffy und stützte die Arme auf die Knie, um wieder zu Atem zu kommen. »Wir sollten hierbleiben.«
»Glaubst du, das war die Polizeigarde?«, fragte Evie.
Raffy schüttelte den Kopf, aber sie konnte die Furcht in seinem Blick sehen. »Vielleicht war da gar nichts.« Er war offensichtlich bemüht, locker und zuversichtlich zu klingen. »Aber wenn es die Polizeigarde war, dann ist das der beste Platz, um uns zu verstecken. Wenn es sein muss, können wir sogar auf einen Baum klettern.«
Evie nickte verhalten. »Und wenn es nicht die Polizeigarde war?«
Raffy blickte ihr in die Augen. Sie wussten beide, dass die andere Möglichkeit mindestens genauso grauenerregend war: die Bösen.
»Ich glaube nicht, dass da jemand war«, meinte Raffy mit einem Achselzucken, das über die angespannte Situation hinwegtäuschte. »Aber hier findet uns niemand. Schau, der kleine Bach da, also haben wir sogar Wasser. Dann finden wir bestimmt auch etwas zu essen und einen Lagerplatz.«
»Etwas zu essen?« Evie blickte sich voller Zweifel um; sie sah nichts als Bäume und Gestrüpp.
»Beeren«, meinte Raffy zuversichtlich. »Und wahrscheinlich gibt es hier Kaninchen. Oder Vögel. Ich kann uns welche fangen.«
Evie musste das verdauen und sie runzelte die Stirn. »Und wie sollen wir sie … essen?«
Raffy lachte. »Du musst sie töten«, sagte er mit funkelnden Augen. »Und dann kochst du sie. Das ist nur fair, wenn ich sie schon fange.«
Sie sah ihn entsetzt an. »Ich kann doch kein Kaninchen umbringen.« Sie wich ein Stück zurück. »Ich kann es einfach nicht.«
Er lachte wieder und packte sie im Spaß. »Hast du noch nie einem Kaninchen das Fell abgezogen?«
Evie schüttelte den Kopf. Es gab Kaninchen in der Stadt, aber sie wurden draußen auf den Feldern geschlachtet. Wenn Evie sie zu Gesicht bekam, dann waren sie schon zerlegt und in Tüten gepackt zum Verkauf – nicht mit Fell und mit einem Kopf mit Augen …
»Ich auch nicht.« Raffy grinste. »Keine Ahnung, wie man die fängt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, ob es in so einer Gegend überhaupt welche gibt. Ich wollte nur ein bisschen angeben. Erst einmal schauen wir vielleicht nach Beeren, was meinst du?«
»Du Idiot.« Auch Evie musste lachen. Doch während sie sah, wie Raffy herumkroch und nach Beeren suchte, ging ihr durch den Kopf, dass sie zwar vielleicht kein Tier töten musste, aber dass ihre Chancen, hier draußen zu überleben, ziemlich schlecht standen.
Sie lief zu ihm hin und biss die Zähne zusammen, wenn sie sich an den Dornen stach oder sich die Arme zerkratzte. »Hast du etwas gefunden?«
»Brombeeren«, sagte er und hielt eine hoch. »Sie sind noch nicht ganz reif, aber ich glaube, man kann sie essen.«