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Evie streckte die Hand aus und wollte nach der Beere greifen, doch da schlang sich etwas um ihren Knöchel und riss sie in die Höhe. Sie baumelte in einem Netz, drei Meter über dem Boden. Raffy rannte zu ihr hin, aber auch er wurde von einem Netz hochgerissen und hing augenblicklich hoch oben in dem Baum, unter dem sie eben noch gestanden hatten.

Ein paar Sekunden später tauchten ein paar Männer auf und die Netze wurden losgeschnitten. Wie gelähmt vor Angst sah Evie zu, wie Raffy und sie gepackt wurden und wie Männerhände ihnen den Mund zuhielten und sie wegschleiften.

12

Sie ist bei Raffy, sie halten einander fest, klammern sich aneinander, weil sie wissen, dass man sie trennen will … »Du liebst mich«, flüstert er. »Nur mich.« Und sie nickt leidenschaftlich, weil sie weiß, dass es wahr ist, dass sie verbunden sind, dass zwischen ihnen etwas ist, das nicht zerbrochen werden kann, dass es immer Raffy und sie war und dass das immer so sein wird. Dann wird es kalt und sie bekommt eine Gänsehaut an den Armen. Sie weiß, dass Raffy es auch spürt, weil er sich angespannt umschaut. Und plötzlich sind sie da und umzingeln sie; sie sind wie Geister, unheilvoll schwebende Wesen, aber sie weiß sofort, wer das ist. Es sind die Bösen, die es auf sie abgesehen haben, und sie müssen weglaufen … Und sie rennen, aber sie rennen nicht schnell genug, und als ihre Fersen den Boden berühren, springt sie hoch in die Luft, bis hinauf in die Wolken, aber es reicht nicht, es wird nie reichen. Evie stolpert; sie liegt auf dem Boden. Raffy dreht sich um, und sie sieht die Angst in seinen Augen, und während er auf sie zukommt, weiß sie, dass es zu spät ist. Er ruft, dass es ein Fehler war, dass alles ein Fehler war, und dann ist er fort. Lucas steht an seiner Stelle und sieht ihr tief in die Augen und sagt ihr, dass sie stark sein muss, dass sie mutig sein muss und dass er von ihr abhängig ist. Er legt die Arme unter ihren Kopf und hebt ihn behutsam an; dann beugt er sich herunter, und sie sieht den Schmerz und die Qual in seinen Augen, sieht, dass er sie braucht. Ihr Verlobter. Lucas. Und sie kann nicht anders, als ihre Lippen sich finden und er sie küsst, und sie fühlt sich sicher und geborgen und alles ergibt mit einem Mal einen Sinn. Aber sie schließt die Augen, und als sie sie wieder öffnet, ist er verschwunden und sie ist allein und es ist sehr kalt …

Evie erwachte und zitterte vor Kälte. Nur ein Stück von ihr entfernt stand ein Mann und starrte sie an. Ihr Kopf tat so weh, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie konnte sich nicht bewegen, denn sie war an Händen und Füßen gefesselt. Jetzt erinnerte sie sich wieder an die Falle und an die starken Hände, die sie festgehalten hatten. Raffy hatte sich gewehrt und hatte verloren und war mit dem Gesicht nach unten auf den Boden geworfen worden. Sie hatten ihren Rucksack geplündert, ihnen Fragen ins Gesicht gebrüllt und Informationen verlangt. Sie hatten stundenlang marschieren müssen, bis sie nicht mehr weiterkonnte; man hatte ihr Wasser angeboten; sie hatte es getrunken und war zusammengebrochen. Sonst wusste sie nichts mehr; sie hatte keine Ahnung, wie sie an diesen kalten dunklen Ort gekommen war. Sie roch den Atem des Mannes, süß und scharf zugleich, wie der Begrüßungstrunk bei der wöchentlichen Versammlung, wie ein Feuerwerk oder wie …

»Du bist also wach? Das ist gut«, sagte er. »Tut mir leid wegen der Schmerzen. Wir mussten den Chip entfernen. Nur eine Vorsichtsmaßnahme.«

Evie musterte ihn ängstlich. Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete. Sie wusste nur, dass er unter den Männern gewesen war, die sie und Raffy abgeschnitten hatten. Er hatte kein einziges Haar auf dem Scheitel; die restlichen Haare an den Seiten waren silbergraue Stoppeln. Sein faltiges Gesicht war schmutzig und von der Sonne gebräunt. Er trug eine Weste, kein Hemd. In der Hand hielt er eine Waffe, die sie bedrohlich anblitzte.

Er war nicht zivilisiert, erkannte sie mit einem Schlag. Er war ein Böser. Er war ein Böser und er würde sie beide ermorden.

Sie wusste es ganz tief in ihrem Bauch. Und sie wusste auch, das hieß, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach in ein paar Stunden tot sein würde.

Der Mann betrachtete sie noch ein paar Sekunden lang, dann lachte er auf und steckte die Pistole in seine Gesäßtasche. »Keine Sorge, ich werde dich nicht töten. Sonst hätte ich es schon längst getan. Aber ich will wissen, wer ihr seid und was ihr auf dem Gelände der Stadt verloren habt.«

»Auf dem Gelände der Stadt?«, fragte Evie unsicher. »Wir waren doch gar nicht …«

»Oh doch, das wart ihr.« Er lächelte. »Ihr glaubt wohl, das Land vor der Stadt gehört keinem. Sie haben Patrouillen dort. Wollen nicht, dass einer zu nah rankommt. Aber ihr wart ganz nah.«

Evie blickte angestrengt um sich und suchte nach Raffy, aber er war nirgends zu sehen. War er entkommen? Folterten sie ihn? War er vielleicht schon tot? Sie heftete ihren Blick auf den Mann, suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass seine Amygdala jeden seiner Schritte steuerte und sein ganzes Denken verdarb.

»Du schaust nach deinem Freund? Hier, hinter mir.«

Er trat einen Schritt zur Seite und Evie sah auf der anderen Seite des Raumes so etwas wie ein Häufchen Kleider auf dem Boden. Es bewegte sich nicht. Evies Kinnlade klappte herunter.

»Keine Sorge«, sagte der Mann. »Er lebt.«

Evie sagte nichts. Der Mann schien ihre Gedanken zu lesen und ihr war überhaupt nicht wohl dabei.

»Also«, fuhr der Mann im Plauderton fort, so als wäre das alles ganz normal; als wäre sie nicht gefangen genommen, an diesen seltsamen Ort verschleppt und gefesselt worden wie ein wildes Tier. »Wer seid ihr und warum seid ihr hier?«

Evie funkelte ihn wütend an. Die Stricke gruben sich tief in ihre Gelenke an Händen und Füßen. Sie wollte, dass ihre Fesseln sich lösten, wollte, dass dieser böse Mensch sie allein ließ, sodass sie Raffy wecken und sich mit ihm einen Fluchtplan ausdenken konnte. Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr; der Haufen Kleider sprang in die Höhe, Raffy warf sich auf den Mann und riss ihn nach hinten. Evie wollte ihm helfen und bäumte sich auf, aber die Stricke schnitten ihr ins Fleisch, und sie fiel wieder hin.

Der Mann schrie laut auf, und ein anderer Mann stürzte herein, ein hässlicher, plumper Geselle mit muskulösen Armen. Er riss Raffy zurück, schlug ihm mit der Faust in den Magen und schleuderte ihn wieder auf den Boden.

»So ist das also«, zischte der erste Mann durch die Zähne und spie etwas Blut auf den Boden. Er stand auf und blickte angewidert auf Raffy.

»Du solltest ihn lieber zur Vernunft bringen«, sagte er zu Evie. Die beiden Männer gingen hinaus und schlossen die Tür.

Sofort robbte Evie zu Raffy hinüber. Er lag auf dem Rücken mit blutüberströmtem Gesicht. Gefesselt, wie sie war, konnte sie ihn nicht berühren, seine Wunden nicht säubern. Sie blickte auf ihn hinunter, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, weil das nicht passieren durfte, jetzt wo sie es fast geschafft hatten, zu fliehen und endlich frei zu sein.

»Raffy, Raffy, wie geht es dir?« Sie blinzelte heftig, da sie sich die Tränen nicht abwischen konnte.

»Es geht.« Er setzte sich auf und legte seine Stirn an Evies Stirn. Dann sah er sich um. Seine Augen funkelten und er biss wütend die Kiefer aufeinander. »Es hat nicht viel gefehlt …«

»Ich weiß«, sagte Evie und nickte heftig, um ihm zu zeigen, dass sie ihn verstand. »Aber es sind Böse, Raffy. Das sind keine Menschen. Sie sind nicht wie wir.«

Raffy verzog das Gesicht. »Mein Kopf«, stöhnte er. »Es tut weh … Wo sind wir hier eigentlich?«

Sie schauten sich gründlich um. Sie waren in einem riesigen kahlen Raum mit hoher Decke, grauen Wänden und Betonboden. Er war größer als alle Räume, in denen Evie je gewesen war, sogar größer als das Versammlungshaus der Stadt. Durch verdreckte Fenster fiel allmählich etwas Tageslicht und durch die rissigen Wände und mehrere zerbrochene Fensterscheiben drang Dunst und wucherten Pflanzen. An beiden Enden gab es massive Türen, die höchstwahrscheinlich verschlossen waren. Möbel waren nicht in dem Raum, nur die dünnen Matratzen, auf denen sie geschlafen hatten, und die modrig riechenden Decken.